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E-Comic weckt romanische Monster auf

Dr. Clau, die Hauptfigur im E-Comic, gerät in die Fänge eines Menschenfressers. crestomat.ch

Il Crestomat: So heisst der erste Online-Comic in romanischer Sprache. Traditionelle Mythen sollen damit der neuen Generation zugänglich gemacht und das Interesse für die am wenigsten gesprochene Landessprache gefördert werden.

“Die Metta da fein (Kinderschreck) schlägt den Kindern, die durch das hohe Gras laufen, die Füsse ab”, erzählt Mathias Durisch mit besorgniserregendem Lächeln. “Die Leute sagten den Kindern, dass sie nicht in die Felder treten sollten, sonst würden sie von der Metta da fein geschnappt werden. Ich fand, dass dieses Wesen im Comic eine grossartige zornige Figur hergeben könnte.”

Das Gratis-Online Projekt hat in Chur, im Hauptort des Kantons Graubünden seinen Anfang genommen, wo rund 60’000 Personen regelmässig romanisch sprechen.

“Wir hatten Indiana Jones gesehen und kamen zum Schluss, selber ein Abenteuer auf die Beine zu stellen”, sagt Sabrina Bundi, Journalistin am romanisch-sprachigen Radio RTR.

Mitautor Michel Decurtins, der ebenfalls bei RTR als Journalist arbeitet, ergänzt: “Eigentlich begann alles mit dem Wort ‘Crestomat”, das es eigentlich nicht gibt, aber das uns wie aus der Luft gegriffen in den Sinn kam. Zufälligerweise hatten wir zuvor Indiana Jones gesehen.”

Bundi, 31, und Decurtins, 37, sind die Erfinder von Il CrestomatExterner Link. Laut Decurtins ist es eine “Neudefinition” der Chrestomathie, einer Sammlung von romanischen Texten, die zum Teil 500 Jahre alt sind. Die beiden Journalisten verfassten das Drehbuch, schrieben den Dialog und schickten beides an den in Zürich lebenden Designer Mathias Durisch (37), damit dieser die Zeichnungen dazu machen sollte.

“Epische Saga”

Es stellte sich als schwierig heraus, über den Plan zu sprechen, ohne zu viel preiszugeben. Im Gespräch mit swissinfo,ch kam es vor, dass einer der Autoren unbeabsichtigt gewisse Handlungen verriet, die noch nicht publik gemacht werden sollten, und damit ein “pssssst” der anderen auslöste.

“Dr. Clau, ein erfundenes Wesen aus unserer Welt, gerät in eine mysteriöse Welt, wo die Mythen der Chrestomathie lebendig sind und sich gegenseitig bekämpfen …”, sagt Bundi zur Beschreibung der Szene der ersten Ausgabe, die im November erschienen ist.

Die weiteren Ausgaben erscheinen ungefähr alle zwei Monate, die nächste voraussichtlich “bald” und die dreissigste und letzte in rund fünf Jahren. “Eine epische Saga”, sagt Bundi über die zu erwartenden rund 600 Seiten.

Die neue Ausgabe erscheint jeweils zuerst in romanisch und wird dann ein paar Wochen später ins Deutsche, Italienische und Englische übersetzt. Als Online-Ausgabe ist der Comic  nicht nur günstiger, sondern kann auch ein breiteres Publikum erreichen.

Zündstoff für Albträume

“Die sonderbarste Figur ist ‘Butttatsch cun îgls? – ein Pansen mit Augen!”, sagt Bundi. Der mit Dutzenden Augen bedeckte Kuhmagen, der sprechen und sich bewegen kann, hat definitiv das Potential Albträume hervorzurufen…

“Unser Pansen ist süss”, sagt Bundi beschwichtigend. “Hilfsbereit, etwas tollpatschig, aber sehr nett. Es ist ein Bündner Original.” Am Schluss jedes Comics folgt ein Auszug aus der Chrestomathie, “wo man zum Beispiel erfährt, wie die ursprüngliche Buttatsch beschrieben wurde”.

In der ersten Ausgabe kommt ein weiteres traditionelles Wesen vor, ein “glimari” (Menschenfresser), das eine gewisse Ähnlichkeit hat mit dem  “Ding” aus Marvels Fantastischen Vier. “Wir haben über den Stil diskutiert und darüber, wie das Wesen aussehen sollte. Schliesslich waren wir uns alle einig, dass es ein moderner Comic sein sollte, also Marvels Ästhetik haben darf”, sagt Durisch.

“Mir gefielen diese Comics, als ich jung war. Es macht mir viel Spass, sie zu zeichnen.” Durischs Arbeit beginnt, wenn das Drehbuch und die Sprechblasen aus Chur eingetroffen sind. Um eine Seite zu zeichnen, braucht er rund acht Stunden.

Eines der wichtigsten Ziele des Projekts sei es, die Leute an diese Geschichten zu erinnern, “weil diese sonst vergessen gehen”.

“Ich will nicht, dass meine Kinder 7000 Seiten eines sehr schweren Textes lesen müssen, um einige unserer Mythen zu kennen”, sagt er. “Aber es geht auch darum, dass die romanische Kultur ausserhalb der Region wahrgenommen wird.”

Anders als zum Beispiel die Wesen der Gebrüder Grimm oder jene von Lewis Caroll, die den meisten Europäern bekannt sind, sind nicht alle romanisch-sprachigen Kinder mit den farbenfrohen Beschreibungen der rätoromanischen Chrestomathie vertraut.

“Ich kannte einige von ihnen”, sagt Decurtins. “Von Buttatsch hatte ich vor meinem Romanisch Studium an der Universität nie etwas gehört. Aber die Kinder aus dem Surmiran-Gebiet Graubündens erfahren die Geschichten des Pansens und dessen Augen, die über die Berge rollen…”

Idiome

In den Diskussionen über Rätoromanisch kommt früher oder später das Thema der Idiome zur Sprache. In Graubünden haben sich fünf regionale Variationen entwickelt: Sursilvan, Sutsilvan, Surmiran, Putér und Vallader haben ihre lokalen Eigenheiten. Il Crestomat bringt sie alle aufs Tapet. “Buttatsch stammt aus dem Zentrum Graubündens, aus dem Surmiran-Gebiet, deshalb spricht er Surmiran”, sagt Decurtins. “Dr. Clau spricht Sursilvan, weil er die Hauptfigur ist, und wir Sursilvan sprechen! Die anderen Figuren sprechen Putér, Vallader oder andere Idiome.”

Rätoromanisch

Rätoromanisch wird in der Schweiz nur von 0,5% der Bevölkerung gesprochen, fast ausschliesslich im Kanton Graubünden. Es stammt wie alle romanischen Sprachen vom Lateinischen ab. Seine nächsten Verwandten sind Friaulisch und Ladinisch, die im Norden Italiens gesprochen werden.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts wird rätoromanisch als eigenständige Sprache anerkannt. Die ersten Dokumente mit Texten in rätoromanischer Sprache stammen aus dem 16. Jahrhundert. Seit 1938 ist es als 4. Landessprache anerkannt. Seit 1996 ist die offizielle amtliche Schriftsprache des Rätoromanischen die künstlich entwickelte Version Rumantsch Grischun, Sie existiert seit 1980.

Im Kanton Graubünden haben sich fünf Dialekte oder Idiome entwickelt. Am stärksten verbreitet ist der Dialekt Sursilvan, der in der Region des Vorderrheins gesprochen wird. 

Wie die meisten romanischen Kulturprojekte erhält auch Il Crestomat Subventionen des Kantons sowie Spenden von verschiedenen Stiftungen, darunter Lia RumantschaExterner Link, eine Dachorganisation zur Erhaltung und Förderung des Rätoromanischen.

“Egal was man für ein romanisches Produkt herstellt, es lässt sich nicht allein mit Verkäufen finanzieren. Unsere Gemeinschaft ist dafür zu klein”, sagt Decurtins.

Il Crestomat sei eine grossartige Idee, sagt Daniel Telli. “Diese Dinge sind sehr interessant, aber sie drohen, vergessen zu gehen. Die ursprüngliche Chrestomathie umfasst 12 Bände, die sich nicht umhertragen lassen”, sagt Telli gegenüber swissinfo.ch am Sitz von Lia Rumantscha in Chur.

Um das Aussterben der Romanisch Sprechenden zu verhindern, werden zahlreiche Anstrengungen unternommen. Mit ein Grund für den Rückgang sind der demografische Wandel, beschränktes Interesse der Zuwanderer, aber auch ein gewisser Gruppendruck.

“Wichtig ist, dass alle, die romanisch sprechen, diese Kenntnisse an die nächste Generation weitergeben. Die Eltern sollten mit ihren Kindern romanisch sprechen”, sagt Telli.

“Das mag banal tönen, aber ich kenne Fälle, wo dies aus verschiedenen Gründen nicht so ist. Wenn die Mutter Deutsch spricht, ist es mühsamer die Sprache der nächsten Generation beizubringen. Aber wenn dies nicht geschieht, bricht die Verbindung ab, und es wird umso schwieriger, später wieder damit vertraut zu werden. Diese Kinder werden später bereuen, dass ihre Eltern mit ihnen nicht romanisch gesprochen haben.”

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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