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In Tschetschenien zeichnet sich eine Wahlfarce ab

In Tschetschenien wird am Sonntag - wie schon 2003 - gewählt. Der Sieger steht schon fest. Keystone

Am Sonntag wird in Tschetschenien ein neuer Präsident gewählt. Von einer eigentlichen Wahl könne trotz sieben Kandidaten nicht die Rede sein, sagt der Schweizer Andreas Gross, der für den Europarat nach Grosny reist.

Gross warnt aber vor Schwarz-Weiss-Malerei.

Viel deutet darauf hin, dass der Sieger der Präsidentschaftswahl in Tschetschenien feststeht, bevor die Wahl überhaupt begonnen hat. Denn dass der vom Kreml unterstützte Kandidat Alu Alchanow, ehemaliger tschetschenischer Innenminister, nicht gewählt werden könnte, glaubt niemand.

Politbeobachter in Moskau gehen davon aus, dass Alchanow mit ähnlich hohem Ergebnis gewinnen wird, wie sein Vorgänger, Achmat Kadyrow. Dieser war im Oktober 2003 mit 80,8 Prozent der Stimmen gewählt worden.

Das Resultat kam allerdings durch massive Manipulation zustande. Nachdem Kadyrow im Mai bei einem Anschlag umgekommen war, müssen die Tschetschenen nun zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres einen neuen Präsidenten wählen.

Warnung vor Vereinfachungen



“Dass die Wahl zur Farce wird, scheint tatsächlich absehbar”, sagt der sozialdemokratische Zürcher Nationalrat Andreas Gross, der im Auftrag des Europarates seit vier Jahren regelmässig das Krisengebiet im Nordkaukasus besucht.

Seit vergangenem Jahr ist er Rapporteur des Europarates für Tschetschenien. Von Freitag bis Montag weilt er als Co-Leiter einer sechsköpfigen Delegation in Tschetschenien, um die humanitäre und politische Lage zu überprüfen.

Gross warnt allerdings davor, die Situation zu sehr zu vereinfachen. “Böse Russen, liebe Tschetschenen”, diese in den Medien verbreitete Sichtweise werde der Situation überhaupt nicht gerecht, sagt Gross: “Man kann natürlich sagen, dass die Wahl keine echte Wahl ist, aber das greift zu kurz, weil eine so simple Aussage nicht dazu beiträgt, Lösungen für das Problem zu entwickeln”, sagt Gross.

Komplexe Situation

“Die Situation ist äusserst kompliziert. Es prallen die verschiedensten Interessen aufeinander. Neben politischen spielen auch wirtschaftliche, militärische und kulturelle Faktoren eine Rolle”, sagt Gross, der nach Tschetschenien reist, um einen Bericht zuhanden der Parlamentarischen Versammlung des Europarates vorzubereiten.

Die Versammlung will im Oktober über die Lage in Tschetschenien beraten: “Ziel ist es, eine ausführliche Auslegeordnung zu machen, differenzierte Sichtweisen zu berücksichtigen und so die Grundlage für die Ausarbeitung von Lösungsansätzen zu legen.”

Angst vor Kontakt

Neben Gesprächen mit offiziellen Vertretern sind auch Treffen mit Vertretern von Nichtregierungs-Organisationen vorhergesehen. Geplant sind unter anderem Treffen mit dem tschetschenischen Übergangspräsidenten Sergej Abromow und dem Präsidial-Bevollmächtigten für Südrussland, Wladimir Jakowlew.

Gross hofft, auch mit der Bevölkerung Kontakt aufnehmen zu können. Seine Erfahrungen zeigen aber, dass dies gar nicht einfach ist: “Viele haben Angst, dass sie nach solchen Gesprächen existenzielle Probleme bekommen”, sagt er und fügt bei: “Das sagt auch einiges über die Wahlen aus: Wahlen sind keine Wahlen, wenn die Menschen Angst haben, ihre Meinung zu äussern”.

swissinfo, Alexandra Stark in Moskau

Am Sonntag wählen die Tschetschenen zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres einen neuen Präsidenten. Der im Oktober 2003 gewählte Achmat Kadyrow war am 9. Mai 2004 getötet worden.

Rund 75 Prozent der schätzungsweise eine Million Einwohner sind Tschetschenen, 20 Prozent Russen. Die Tschetschenen sind zumeist sunnitisch-muslimischen Glaubens.

Die ölreiche Republik Tschetschenien liegt im Süden Russlands im Kaukasus an der Grenze zu Georgien.

1991 erklärte sich Tschetschenien unabhängig. Im Dezember 1994 marschierten russische Truppen ein. In einem rund 20-monatigen Krieg wurden schätzungsweise 30’000 Menschen getötet.

1999, nach einer Welle von Anschlägen in Russland, für die Moskau tschetschenische Rebellen verantwortlich machte, marschierten russische Truppen abermals ein.

Der Konflikt ist bis heute ungelöst, obschon die russische Führung von Normalität spricht.

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