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Die Herausforderungen am Gotthard

In den intensiven Phasen des Tunnelbaus arbeiteten hier bis zu 700 Menschen. Alptransit

Ein Jahrzehnt Vortriebsarbeiten, Hunderte von Arbeitern auf den Baustellen, tropische Temperaturen und Wassereinbrüche unter der Erde: Der neue Gotthard-Basistunnel, der Ende 2016 in Betrieb eröffnet wird, ist mehr als ein riesiges Loch durch den Berg. Beteiligte Ingenieure erklären, welche Probleme beim Bau des längsten Eisenbahntunnels der Welt gelöst werden mussten. 

Bei einer Reisegeschwindigkeit von 250 Stundenkilometern wird wohl kein Zugspassagier etwas von den grünen Schiebetüren merken. Und im besten Fall werden sie nie benutzt werden. Gleichwohl sind selbst die Fluchttüren des neuen Gotthard-BasistunnelsExterner Link (GBT) eine kleine Meisterleistung der Ingenieurskunst.

“Wir mussten Fluchttüren entwickeln, die ohne elektrische Energie von einem Kind geöffnet werden können, andererseits aber vollkommen undurchlässig sind für Feuer und Rauch. Sie müssen zudem grossen Druckwellen standhalten, die durch vorbeifahrende Züge erzeugt werden“, sagt Peter Schuster vom Ingenieurbüro Ernst Basler + Partner AG.

Die Schiebetüren, die alle 325 Meter den Zugang zu den Querschlägen zwischen den beiden Tunnel-Einspurröhren ermöglichen, waren das Ergebnis einer aufwändigen Entwicklungs- und Projektarbeit. Fünf Prototypen wurden erprobt, bevor die definitive Version dieser Fluchttür entwickelt war, “eine hässliche und sehr teure, aber einzigartige Version“, wie Ingenieur Schuster betont.

Im längsten Eisenbahntunnel der Welt wurde nichts dem Zufall überlassen. “Selbst die kleinsten Bestandteile haben die Kreativität der Ingenieure herausgefordert“, fügt Schuster an, der gemeinsam mit anderen Fachleuten im Rahmen eines Medientags der Schweizerischen Vereinigung Beratender Ingenieurunternehmungen Externer Link(usic) diese  Arbeiten in Erstfeld (Kanton Uri) präsentierte.

Priorität für Sicherheit

Für die AlpTransit-Ingenieure bestand eine der ersten grossen Herausforderungen darin, den Streckenverlauf für die Flachbahnstrecke festzulegen. “Da kann man nicht einfach eine gerade Linie zwischen Nord- und Südportal ziehen“, sagt Tunnelingenieurin Fabiana Henke, ebenfalls vom Unternehmen Ernst Basler + Partner.

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“Wir mussten verschiedenste Kriterien berücksichtigen: Geographische und geologische, wie eine  Felsüberlagerung von bis zu 2300 Metern, aber auch die Notwendigkeit, Zugangsstollen zu erstellen.“

Zudem mussten Faktoren berücksichtigt werden, die auf den ersten Blick nichts mit einem Tunnel tief im Erdinneren zu tun haben, beispielsweise die Streckenführung unterhalb von Staudämmen. “Die Stauseen im Gotthardgebiet mussten vermieden werden, um potentielle Wasserinfiltrationen zu vermeiden“, erklärt Fabiana Henke.

Schliesslich gab es einen Grundsatzentscheid zu treffen: Sollte der Tunnel zweispurig sein, mitsamt einem Sicherheitsstollen, wie beim Gotthard-Strassentunnel? Oder wären drei Röhren wie beim Euro-Tunnel zwischen Frankreich und England besser? Die Wahl fiel auf einen Mittelweg, das heisst auf zwei getrennte Einspurtunnel. “Dafür waren Sicherheitsüberlegungen ausschlaggebend, aber auch Unterhalts- und Kostenaspekte“, präzisiert Peter Schuster.

Die Regenschirmmethode

Als 1999 die erste Sprengung erfolgte, konnte niemand im Detail vorhersehen, wie die Bedingungen im Innersten des Berges sein werden. Man wusste, dass sich Mineure und Ingenieure auf hohe Temperaturen gefasst machen müssen. Im Tunnel wurden dann Temperaturen bis zu 45 Grad gemessen. Diese liegen deutlich über dem von der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) festgelegten Grenzwert von 28 Grad.

“Die Werkplätze für die Mineure wurden daher gekühlt und durch ein Lüftungssystem mit Frischluft versorgt“, sagt Peter Schuster. In der Betriebsphase des Tunnels wird die Temperatur mit Luft, welche von den einfahrenden Zügen in den Tunnel gepresst wird, im Inneren der Röhre gesenkt werden.

Eine weitere Herausforderung für die Ingenieure stellten die realen und möglichen Wassereinbrüche dar. Besonders bekannt war diesbezüglich die Piora-Mulde, eine Schicht aus fast zuckerförmigen Dolomitgestein. Die Geologen befürchteten, dass hier unter grossem Druck Wasser einbrechen könnte. Wäre dieser Fall eingetreten, wäre das ganze Alptransit-Projekt wohl gescheitert. Die Sondierbohrungen ergaben aber, dass dies Gesteinsschicht glücklicherweise nicht bis auf das Tunnelniveau reichte.

Um generell das Wasserproblem zu lösen, sei zur “Regenschirmmethode“ gegriffen worden, erklärt  Fabiana Henke. Das Gewölbe werde im oberen Teil abgedichtet, im unteren Teil werde das Wasser drainiert und unterhalb des Gleises zu den Portalen geleitet.

Die Tunneldecke wurde mit undurchlässigen Plattenelementen abgedichtet. Das Doppelgleis, das während der Vortriebarbeiten genutzt wurde, wurde schliesslich durch das einspurige Fahrgleis ersetzt. AlpTransit

Der neue Gotthard-Basistunnel ist 57 Kilometer lang. Damit ist die Röhre zwischen Erstfeld (Kanton Uri) und Bodio (Kanton Tessin) der längste Eisenbahntunnel der Welt.

Am Bau waren bisher 2600 Personen beteiligt. Der Vortrieb wurde zu 80 Prozent mit Tunnelbohrmaschinen (TBM) ausgeführt, 20 Prozent mit Sprengstoff. Die Gesamtkosten des Werks belaufen sich auf 12,4 Milliarden Franken.

Die offizielle Eröffnung wird im Juni 2016 erfolgen, die Inbetriebnahme im Dezember des gleichen Jahres. Güterzüge können eine Höchstgeschwindigkeit von 160 km/h erreichen, Personenzüge 250 km/h.

Wenn am Ceneri (zwischen Bellinzona und Lugano) auch der zweite Tunnel der Gotthard-Linie  fertig gestellt sein wird, wird die Fahrzeit zwischen Zürich und Mailand weniger als drei Stunden betragen.

Technische und zeitliche Herausforderungen

“Man könnte meinen, dass ein Tunnel immer ein Tunnel ist, ganz unabhängig von seiner Länge – denn am Ende sehen sie ähnlich aus“, sagt Davide Merlini, Chefingenieur bei Pini Swiss Engineers. Doch gerade der neue Gotthard-Basistunnel beweise die grossen Unterschiede zu anderen Projekten, insbesondere in Bezug auf die Tunnellogistik. Bis zu 700 Personen waren in der komplexesten Bauphase im Tunnel tätig. “Die Logistik ist ein Projekt im Projekt“, sagt Merlini.

Auch die lange Bauzeit ist eine Herausforderung für die Ingenieure. “Vom Beginn der Projektphase bis zum Ende der Bauphase sind mehr als 10 Jahre vergangen“, betont Davide Merlini. In einem solch langen Zeitraum können sich viele Dinge verändern, angefangen bei der Technik.

Einige eingebaute Komponenten wurden bereits vor der Inbetriebnahme des Tunnels wieder ausgetauscht, weil die technologischen Standards einen neuen Stand erreicht hätten, sagt Roger Wiederkehr vom Ingenieur-Büro Pöyry. Er ist für den Einbau der Fahrstromanlage zuständig. Im letzten Jahrzehnt hätten sich zudem eine Reihe von Gesetzen und Vorschriften geändert.

Beispielsweise ist ein Gesetz in Kraft getreten, dass alle fünf Kilometer einen Unterbruch der Fahrstromleitung vorsieht. “Das ist eine Sicherheitsmassnahme: Im Falle eines Brandes ist nicht die ganze Linie betroffen. Ein vorausfahrender Zug kann seine Fahrt beispielsweise fortsetzen”, hält Roger Wiederkehr fest.

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Exportiertes Know-how

Der Gotthard-Basistunnel wird am 2. Juni 2016 offiziell eröffnet. Doch bereits jetzt hat die gewaltige Ingenieurleistung im Herzen der Schweiz Schule gemacht. So ist ein Teil des Wissens, das am Gotthard gesammelt wurde, in die Planung des Brenner-Basistunnels eingeflossen, der zwischen Österreich und Italien gebaut wird. Dort werden ebenfalls zwei Einspurtunnel erstellt. “Schweizer Ingenieurswissen ans Ausland zu verkaufen, gehört auch zu den Zielen von solchen Grossprojekten”, hält Davide Merlini fest.

Den Ingenieuren, genauso wie den Mineuren, bleibt der Stolz, an einem einzigartigen Bauwerk mitgewirkt zu haben. Davide Merlini hält fest, “dass jedes Projekt seine Schönheit und seine Schwierigkeiten aufweist. Aber ein gigantisches Bauwerk wie der Gotthard-Basistunnel hilft sicherlich, andere Projekt mit einem höheren Grad an Sicherheit anzugehen.“

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“Ohne Ingenieure gäbe es die Neue Alpentransversale nicht“, sagt Heinz Marti, Präsident der Schweizerischen Vereinigung Beratender Ingenieurunternehmungen (usic).

Mit dieser Feststellung will Marti zugleich auch auf ein Problem in der Schweiz hinweisen: Es gibt einen gravierenden Fachkräftemangel in dieser Branche. Viele Ingenieur-Stellen bleiben unbesetzt.

Der Grund für diesen Zustand ist laut Marti, dass das Studium gemessen an den Lohnperspektiven als zu anspruchsvoll gelte.

In einem Interview mit dem Schweizer Radio SRF hält Heinz Marti fest, dass jedes Jahr rund 4000 Stellen zu besetzen seien. Für 800 Stellen müssten Ingenieure aus dem Ausland angeworben werden, ganz unabhängig von der vom Volk im Februar 2014 angenommenen Masseneinwanderungsinitiative.

Marti erinnert zudem daran, dass momentan eine ganze Generation von Ingenieuren in den Ruhestand gehe. Der längste Eisenbahntunnel der Welt werde auch im Betriebszustand Ingenieure benötigen.

(Übersetzung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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