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Integration: “Die Eltern in die Pflicht nehmen”

Mangelnde Integration der Erwachsenen wirkt sich negativ auf deren Kinder aus. Keystone

Vorfälle wie die mutmasslichen Vergewaltigungen in Zürich weisen daraufhin, dass die Schweiz während Jahrzehnten die Integrationsarbeit vernachlässigt hat.

Thomas Kessler, Integrationsbeauftragter der Stadt Basel, ist überzeugt, dass schnell gehandelt und die Eltern in die Pflicht genommen werden müssen.

Sexuelle Übergriffe Jugendlicher haben in den vergangen Tagen die Frage aufgeworfen, ob junge Angehörige ausländischer Gemeinschaften vermehrt dazu neigen, die Gesetze in der Schweiz zu missachten.

Die Erfahrungen der Stadt Basel, die bei Integrationsmassnahmen eine Pionierrolle hat, zeigen ein Stück weit auf, wie die Mechanismen der Integration oder eben Nicht-Integration funktionieren.

swissinfo hat darüber mit Thomas Kessler, Integrationsbeauftragter der Stadt Basel, gesprochen:

swissinfo: Kann ein Vorfall wie die kollektive Vergewaltigung eines 13-jährigen Mädchens in Zürich Seebach Ausgrenzungs-Reaktionen gegenüber jungen Ausländern auslösen?

Thomas Kessler: Es wäre gefährlich, daraus Verallgemeinerungen abzuleiten. Die Mehrheit der sozial Schwachen verhält sich durchaus legal. Es geht darum, die Probleme zu erkennen und entsprechend zu handeln. Die Lösungen sind bekannt.

swissinfo: Was heisst das zum Beispiel?

T.K.: Die Integration der Eltern ist vorrangig. Man muss sie verpflichten, ihre Kinder zu erziehen! Die Stadt Basel wird nächsten Frühling Integrations-Verträge einführen. Die Einhaltung dieses Vertrags ist Voraussetzung dafür, dass eine Aufenthalts-Bewilligung erteilt wird.

Das heisst konkret: Die Leute nehmen an einem Sprachkurs teil, wenn sie kein Deutsch verstehen, an einem sozialen Integrationsprogramm, wenn sie isoliert sind, oder an einer beruflichen Orientierungshilfe, wenn sie keine Arbeit haben.

Vorgeschlagen sind auch Kurse über das Funktionieren der staatlichen Institutionen. Die Kurse werden nicht gratis sein, die Teilnehmenden müssen einen Teil der Kosten bezahlen.

swissinfo: Wie kann man die Eltern verpflichten, ihre Kinder zu erziehen?

T.K.: Durch proaktive Kommunikation. Ich werde demnächst an einer Feier einer albanischen Gemeinschaft teilnehmen. Dort werde ich das Thema Vergewaltigung ansprechen.

Wenn die Lehrkräfte feststellen, dass gewisse Eltern nie an Elterngesprächen teilnehmen, dann ist nicht nur die Schule gefordert: Mit Kultur-Mediatoren, in Sport- und Kulturclubs, überall muss folgende Botschaft vermittelt werden: Es gibt Regeln, die zu respektieren sind. Jede Missachtung muss bestraft werden.

Wir müssen die Lücken füllen, die sich während der letzten 10 bis 20 Jahre angehäuft haben.

swissinfo: Was ist Ihrer Ansicht in dieser Zeit geschehen?

T.K.: Wir haben uns von der in der deutschen Romantik begründeten Illusion leiten lassen, wonach sich der Staat nicht in private Dinge einmischen soll. Man hat sich nicht um die Eltern gekümmert, und sie auch nicht dazu angehalten, sich zu integrieren.

Man hat gedacht, die Schule reiche dazu aus. Das war ein Fehler. Wenn man nichts tut, dann übertragen die Immigranten der ersten Generation ihre Probleme auf ihre Kinder.

swissinfo: Sind die Immigranten die Einzigen, die reagieren müssen?

T.K.: Grundsätzlich fehlt es der Gesellschaft im täglichen Leben an Zivilcourage. Vandalismus und anderes despektierliches Verhalten dürfen nicht toleriert werden. Wir müssen hier unsere Verantwortung wahrnehmen und bereits bei vermeintlichen Bagatellen durchgreifen.

swissinfo: Sogar bei kleinen Kindern?

T.K.: Bei Kindern im Alter zwischen sieben und neun Jahren kann man die Sache schnell wieder ins Lot bringen. Die letzte Chance kommt im Alter von 10 oder 11 Jahren. Später, also bei 13-jährigen Kindern, ist der Gruppen- oder Bandendruck so gross, dass die Heranwachsenden Mühe haben, sich ihm zu entziehen.

swissinfo: Bei Sexualdelikten scheint ja auch die chauvinistische Haltung der Knaben ein Problem zu sein.

T.K.: Hier spielen vier Faktoren eine Rolle. Die Jungen kommen aus Ländern, die im Krieg waren und wo Vergewaltigung eine Waffe war. Zudem stammen sie aus patriarchalischen Gesellschaften, in denen der Vater die soziale Kontrolle inne hat.

In der Schweiz angekommen, erleben sie das andere Extrem: eine ultraliberale Gesellschaft, praktisch ohne Leitplanken.

Dazu kommt, dass jene, welche in der Schule schwach sind, dieses Defizit mit dem Ausüben von Gewalt kompensieren.

Schliesslich leben wir in einer Gesellschaft, welche die Sexualität überbewertet. Pornographie wird zudem in der Regel von den Leuten konsumiert, bei denen sie am meisten Schaden anrichtet. Nicht alle sind gegen diese Bilder immun. Wenn alle vier negativen Elemente zusammen kommen, dann schreiten die Menschen eben zur Gewalt.

swissinfo: Spielt es auch eine Rolle, dass in gewissen Kulturen den Knaben grössere Freiheiten zugestanden werden als den Mädchen?

T.K.: Ich wurde auch so erzogen. Das ist eine andere Diskussion. Das Problem entsteht, wenn zur Freiheit das völlige Fehlen von Respekt dazu kommt. Die Väter müssen ihren Söhnen beibringen, die Lehrerin und andere Personen zu respektieren.

swissinfo-Interview: Ariane Gigon Bormann
(Übertragung aus dem Französischen: Andreas Keiser)

Mitte November war bekannt geworden, dass in Zürich-Seebach ein 13- jähriges Mädchen über Wochen mehrfach vergewaltigt worden war.

Mutmassliche Täter sind zehn Jugendliche und zwei Erwachsene im Alter von 15 bis 19 Jahren. Die meisten stammen aus Ländern des Balkans. Sie sind in Untersuchungshaft.

Ein klares Bild darüber, was in Zürich-Seebach genau vorgefallen ist, besteht laut den Untersuchungs-Behörden noch nicht. Die Strafuntersuchung dauert an.

Das Opfer wird von einer Opferhilfestelle betreut.

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