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Intensivere Jagd auf Missbräuche im Sozialbereich

Informationen sollten einfacher zwischen den Behörden fliessen können. imagepoint

Das Thema Sozialhilfe-Betrug wird in der Schweiz kontrovers diskutiert. Auch wenn die Schätzungen über die Schäden weit auseinandergehen, steigt der politische Druck.

Zusätzlich zu verschärften Kontrollen verlangen gewisse Kreise eine Lockerung oder sogar die Aufhebung des Datenschutzes in diesem Bereich.

Der “Fall BMW”, den das Deutschschweizer Fernsehen in diesem Sommer publik machte, war ebenso Tagesgespräch wie jener des mutmasslichen iranischen Drogenhändlers in Bern, der 2600 Franken Sozialhilfe bezogen haben und ausserdem zwei BMW besitzen soll.

Weitere veröffentlichte Fälle erhöhen den Druck auf die grossen Städte, da dort die meisten Sozialhilfe-Bezüger wohnen. Ein Hinweis dafür, dass das Thema die Gemüter erhitzt, ist der Entscheid mehrerer Städte, die neuesten Zahlen über entdeckte Betrugsfälle zu publizieren.

In Zürich wurden zwischen Januar und Juli dieses Jahres 207 Missbrauchsfälle ermittelt. Die unberechtigt überwiesenen Beträge sollen 2,1 Mio. Franken betragen. In Bern wird dieser Betrag für den gleichen Zeitraum auf 163’000 Franken beziffert. Und der Kanton Genf meldet 139 Missbrauchsfälle, davon 23 schwere.

Was ist Missbrauch?

“Nach rein juristischen Begriffen zu beurteilen, muss man von 2% Betrugsfällen ausgehen. Fasst man den Begriff ein wenig weiter, kommt man auf einen Anteil von 5%”, sagt Walter Schmid, Präsident der Schweizerischen Konferenz für Sozialhilfe (SKOS).

Seine Aussage wird von Michel Cornut, dem Chef der Sozialdienste der Stadt Lausanne, bestätigt. Er schätzt die Anzahl der ernsten Missbrauchsfälle in seiner Stadt auf 1 bis 2%.

In der Stadt Bern haben sich die Direktorin und eine ehemalige Leiterin des zuständigen Bildungs- und Sozialamts öffentlich über die tatsächliche Zahl der Missbrauchsfälle gestritten. Grund für die Differenz ist die unterschiedliche Auslegung des Begriffs “Missbrauch”.

“Wer ein Dokument fälscht oder erklärt, kein Einkommen zu haben, riskiert ein Administrativ- oder Strafverfahren, da ist es klar”, erklärt Walter Schmid. “Aber die alleinerziehende Mutter, die Sozialhilfe beansprucht und eine Wohnung mit ihrem Freund teilt – ist das Betrug?”

Der SVP-Kampf gegen “Sozialhilfe-Betrüger”

Eine andere schwer zu beantwortende Frage ist, ob die Tendenz der letzten Jahre, in denen die Zahl der Strafanzeigen markant angestiegen ist, nun die Missbräuche widerspiegelt oder ein Resultat der verschärften Kontrollen ist.

Verena Keller, Professorin an der Fachhochschule für Sozialarbeit in Lausanne, sagt, die Sozialhilfe sei eine Aufgabe des Staates wo die Kontrollquoten am stärksten seien. Ihrer Meinung nach ist der Betrug “geringfügig und der Schaden in wirtschaftlichen Begriffen unbedeutend”.

Diese Ansicht ist weit entfernt von jener der rechtskonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP), welche das Thema “Sozialhilfe-Betrüger” auf die politische und öffentliche Agenda der Schweiz platziert hat. Ihre im Juli ergriffene “Volksinitiative für die Ausschaffung krimineller Ausländer” umfasst den sozialen Missbrauch als einen Tatbestand, der einen Landesverweis rechtfertigt.

“Die Sozialdemokraten und die Grünen haben immer gesagt, bei den Missbräuchen handle es sich um Einzelfälle. Aber heute stellt man fest, dass sie sehr häufig sind”, sagt SVP-Sprecher Roman Jaeggi. Er prangert weiter eine “Überrepräsentation der Fremden” bei allen Sozialversicherungen an.

Professor Verena Keller ortet dahinter eine “klassische Sündenbockrolle”. Anders sieht es Annemarie Lanker, die ehemalige Leiterin des Berner Sozialamts.

In einem Interview mit der Berner Zeitung “Der Bund”, sagte sie, dass 50-60% der ausländischen Sozialhilfeempfänger das Schweizer Sozialhilfesystem nicht begriffen hätten, und dass sie oft erstaunt wären, dass das Geld so leicht fliesse.

Kritik am Datenschutz

Trotz divergierender Positionen sind sich die meisten betroffenen Parteien darin einig, dass eine bessere Zirkulation der Daten innerhalb des schweizerischen Sozialwesens nötig wäre.

Heute ist theoretisch möglich, dass ein Sozialhilfe-Empfänger gleichzeitig Arbeitslosengeld beziehen kann. “Ich kenne kein anderes Land, in dem die rechte Hand des Staats nicht weiss, was die linke gibt”, sagt Michel Cornut.

Er ist der Meinung, dass “die Abschottung der Steuer-, Sozial- oder sogar Polizeidaten über das Datenschutzziel hinaus zielt”. Aus diesem Grund verlangt die SVP im Kanton Zürich mit einer Initiative die Aufhebung des Datenschutzes, um den Missbrauch zu bekämpfen. Eine ähnliche Motion ist auch im Berner Stadt-Parlament eingereicht worden.

“Für uns ist die aktuelle politische Diskussion eine Gelegenheit, um mehr Transparenz zu verlangen. Nicht in erster Linie, um gegen Missbrauch vorzugehen, sondern um unsere tägliche Arbeit zu erleichtern”, meint Walter Schmid.

Verena Keller hingegen befürchtet eine Aufweichung: “Damit wird signalisiert, dass die Sozialhilfe-Empfänger anders behandelt werden können, als die andern Mitglieder der Gesellschaft.”

swissinfo, Carole Wälti
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler & Etienne Strebel)

In der Schweiz ist die Sozialhilfe in der Bundesverfassung verankert (Artikel 12 und 115). Für die Organisation und den Vollzug sind allerdings die Kantone zuständig.

Die Leistungen der öffentlichen Sozialhilfe sind für jene Personen bestimmt, die nicht in der Lage sind, für sich oder ihre Familie zu sorgen.

Ziel der Sozialhilfe ist es, das Existenzminimum zu garantieren, Hilfe zur Selbsthilfe, die Unterstützung der Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit, die Förderung der sozialen und beruflichen Integration.

Rund 237’000 Personen haben im Jahr 2005 Sozialhilfe-Leistungen im Gesamtbetrag von 3,1 Mrd. Franken erhalten (gemäss den jüngsten Daten des Bundesamts für Statistik BFS).

Das entspricht einer Zunahme von 8% im Vergleich zum Vorjahr. Jugendliche, junge Erwachsene und alleinerziehende Eltern sind als Empfänger übervertreten.

Ein Viertel von ihnen lebt in den 5 grössten Städten der Schweiz, Zürich, Genf, Basel, Bern und Lausanne.

Für 2006 erwartet das BFS für die ganze Schweiz dank der günstigen Wirtschaftslage eine Stabilisierung oder sogar eine leichte Abnahme, wobei die Entwicklung nicht in allen Städten gleich ist.

Während die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger für 2006 in den Städten Zürich, Basel, Schaffhausen und Winterthur kleiner wird, dürfte sie sich in den Städten Bern, St. Gallen und Luzern erhöhen.

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