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Begegnungen durch Literatur

Die Schriftstellerin Friederike Kretzen ist begeistert von der Diskussion mit den Gymnasiasten über die Übersetzung ihrer Werke ins Italienische. literatur.ch

Autoren und Übersetzer begegnen Schülern: Das Projekt gibt jungen Leuten aus verschiedenen Sprachregionen der Schweiz einmal im Jahr die Möglichkeit, zeitgenössische Literatur aus einem andern Sprachraum und die Kunst des Übersetzens kennenzulernen.

In den letzten Jahren konnte man in der Schweiz einen Rückgang der Sprachminderheiten in den andern Regionen des Landes feststellen. Die Mehrheit der deutschsprachigen Kantone und die meisten Führer der grossen Firmen bevorzugen Englisch, ganz im Gegensatz zu   Organisationen, die sich für die Vielfalt von Sprache und  Kultur einsetzen.

Eine Organisation sticht dabei besonders hervor: die ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit. Eines ihrer Projekte ist die ch Reihe zur Förderung von Übersetzungen von Werken Schweizer Autor/innen, oder in der Schweiz lebenden Autor/innen in eine andere Landessprache.

Seit der Gründung der ch Reihe 1974 wurden 250 Werke übersetzt und den Lesern in den andern Sprachregionen nähergebracht. Zudem bereicherte eine neue Aufgabe das ursprüngliche Projekt: Ein jugendliches Publikum lernt die literarische Übersetzerarbeit kennen.   

Die Begegnung mit Schülern aus Mittelschulen illustriert die Ziele des Projekts beispielhaft.  Marisa Rossi und Manuela Grasdorf, zwei Deutschlehrerinnen des Liceo di Lugano 2 in Savosa, haben die Schriftstellerin Friederike Kretzen und die Übersetzerin Emanuela Cavallaro an die Schule eingeladen. Schülerinnen und Schüler aus drei Klassen der Oberstufe  haben sich für die Teilnahme eingeschrieben.

Der Saal ist überfüllt: Der Ansturm ist so gross, dass noch Stühle geholt werden müssen. Man hört ein Murmeln und eine gewisse Aufregung ist spürbar. Doch als Friederike Kretzen beginnt, aus ihrem Roman “Ich bin ein Hügel” vorzulesen, hören die Schüler aufmerksam zu. Die Autorin und die Übersetzerin wechseln sich ab, lesen Auszüge im deutschen Original und in der italienischen Übersetzung.

Danach entwickelt sich ein lebhafter Dialog zwischen den Gästen und den Zuhörern. Die Schüler haben sich sorgfältig vorbereitet: Sie haben mit den zwei Lehrerinnen den Roman gelesen und versucht, eine Seite zu übersetzen, ohne Kenntnis der italienischen Fassung. Sie bestürmen die Autorin und die Übersetzerin mit ihren Fragen, sobald sie zu Wort kommen.

Das Spektrum der Fragen reicht von der Organisation der Zusammenarbeit bis hin zu ganz präzisen Fragen zum Text. Friederike Kretzen und Emanuela Cavallaro geben ausführlich Antwort, scharfsinnige Beobachtungen aus dem Publikum führen zu Gegenfragen. Der Austausch ist intensiv und Begeisterung ist auf beiden Seiten zu spüren.

Ein weibliches Thema, das alle begeistert

Das zentrale Thema des  Romans mit autobiografischen Bezügen ist die weibliche Pubertät. Umso mehr erstaunt die rege Diskussionsteilnahme der jungen Männer. Die Protagonistin ist ein Mädchen, das sich “nicht mehr wiedererkennt und eigentlich auch kein Mädchen mehr ist“, aber auch noch keine Frau. Es befindet sich halb in der Kinderwelt und halb in der Erwachsenenwelt. Es erkennt sich in seinem Körper, der sich verändert, nicht wieder. “Welch fremde und unverschämte Person nimmt hier meinen Platz ein!”

Die Szene spielt im Deutschland der 1970er-Jahre, einem Land im Wandel, wo die Zeichen des Zweiten Weltkrieges noch sichtbar sind, aber niemand darüber sprechen will.

Die Schülerinnen und Schüler zeigen grosses Interesse an dieser Welt, die ihnen zwar völlig fremd ist, in der sie sich jedoch in bestimmten Situationen wiedererkennen. Die metaphorische Sprache, die Wortspiele und die literarischen und kinematographischen Bezüge scheinen sie jedoch zu beflügeln. Offenbar ist ihnen die Herausforderung bewusst, die die Übersetzung eines solchen Textes stellt.

Das Läuten der Schulhausglocke beendet am späten Nachmittag die Begegnung. Einige wollen noch das eine oder andere von der Autorin und der Übersetzerin wissen, andere bitten lediglich um ein Autogramm.

Gegenseitiger Austausch

“Mit berühmten Personen persönlich sprechen können und merken, dass die eigenen Gedanken  ernst genommen werden, ist für die jungen Leute eine wunderbare Erfahrung. Sie sind immer ganz überrascht”, so Marisa Rossi gegenüber swissinfo.ch. “Eine einzigartige Erfahrung”, meint auch Manuela Grasdorf.

Für die Schülerinnen und Schüler “ist es auch eine gute Gelegenheit zu erfahren, was wir ihnen vom ersten bis zum letzten Schultag sagen: ein Sprache zu können und sie zu übersetzen, sind zwei verschiedene Sachen. Dazu braucht es ganz unterschiedliche Kompetenzen”, fügt Marisa Rossi an, die mit ihrer Kollegin im Lauf der Jahre rund zehn solche Begegnungen organisiert hat.

Der Nutzen solcher Begegnungen gilt im Übrigen auch für die Gegenseite. “Sie sind auch für mich bereichernd, weil die Schüler sehr tiefgründige und wohlüberlegte Beobachtungen äussern. Es ist spannend zu sehen, wie sie auf das Buch reagieren, und es ist schön, dass sie selber versuchen zu übersetzen und ihre Version mit meiner vergleichen. Für mich ist es sehr nützlich und interessant, andere Varianten kennenzulernen, denn das Übersetzen ist eine einsame Arbeit”, sagt Manuela Cavallaro.

“Die Schülerinnen und Schüler stellen unglaubliche Fragen zur Literatur, zur Sprache, zur Arbeit mit der Sprache und zum behandelten Thema. Für mich ist diese Gelegenheit wunderbar. Ich finde auch, dass Schulen wirklich aussergewöhnliche Orte sind, wo ich als Schriftstellerin noch etwas über meine Texte lernen kann”, bekräftigt Friederike Kretzen.

Bei diesen Veranstaltungen des kulturellen Austausches hat die deutsche Schriftstellerin etwas Merkwürdiges festgestellt: Winnetou, der legendäre Häuptling der Apachen, bekannt aus Büchern und Filmen, sagt den Tessiner Schülern von heute gar nichts. Für sie ist es bloss der Name eines rot-gelb-orangen “Glacestängels” eines Schweizer Glaceherstellers.

Von den 26 Schweizer Kantonen ist in 17 Kantonen Deutsch die offizielle Sprache, in vier Kantonen Französisch und in einem Italienisch.

Drei Kantone sind zweisprachig – französisch/deutsch und ein Kanton ist dreisprachig – deutsch/romanisch/italienisch.

Von den rein deutschsprachigen Kantonen  lehren heute nur noch drei Französisch als erste Fremdsprache. Es sind dies Baselland, Baselstadt und Solothurn. Alle andern haben Englisch an die erste Stelle gesetzt.

In allen französischsprachigen Kantonen wird heute immer noch Deutsch als erste Fremdsprache gelernt. Englisch kommt an zweiter Stelle. Im Kanton Tessin kommt zuerst Französisch und dann Deutsch.

Im dreisprachigen Kanton Graubünden ist Französisch fakultativ. Zuerst wird eine der drei Sprachen aus dem Kanton gelernt, gefolgt von Englisch.

In den zweisprachigen Kantonen ist die erste Fremdsprache jene aus der andern Sprachregion, gefolgt von Englisch.

Die ch Stiftung für eidgenössische Zusammenarbeit wurde 1967 gegründet. Sie fördert den Brückenschlag zwischen den Sprachgemeinschaften und den Erhalt der Sprachvielfalt und der Kulturen sowie den föderalistischen Staatsgedanken.

In diesem Umfeld wurde 1974 das Projekt ch Reihe geschaffen, welche die Übersetzung von Werken Schweizer Autor/innen in eine andere Landessprache unterstützt und fördert.  

Bis heute wurden so 248 literarische Werke übersetzt, das sind heute rund acht Bücher pro Jahr.

Mit verschiedenen Veranstaltungen will die Organisation die  Texte  in der Originalsprache und die Übersetzungsarbeit  besser bekanntmachen.

Um das Interesse vor allem auch der jungen Leute zu wecken, gibt es das Projekt „ch Reihe an den Schulen“. Durch dieses Projekt wird eine Begegnung von Autor/innen und Übersetzer/innen mit Schüler/innen aus einer Mittelschule ermöglicht.

Zudem gibt die Literaturveranstaltung “4+1 traduire übersetzentranslatar tradurre “, welche die literarische Übersetzung zwischen den vier Landessprachen der Schweiz und einer Gastsprache (4+1) thematisiert. Sie wird alle zwei Jahre in einem andern Landesteil durchgeführt.

Die ch Stiftung setzt sich seit 1976 für den binnenstaatlichen und aussereuropäischen Austausch ein und baut ihr Engagement in diesem Bereich laufend aus. Anfang 2011 wurde mit der Plattform „GO“ ein Beratungsdienst aufgebaut.

Dieser bietet ein umfassendes Angebot an Austausch- und Mobilitätsprogrammen, sowohl im binnenstaatlichen als auch europäischen und aussereuropäischen Bereich.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christine Fuhrer)

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