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Karikaturist stiehlt Brabeck & Co die Show

Chappatte durchbrach mit seinen genialen Karikaturen den Ernst der WEF-Veranstaltungen. swissinfo.ch

"Die Schweiz: Vom Musterland zum Durchschnittsstaat?": Eine illustre Podiums-Runde in Davos erfüllte die Erwartungen nicht.

Die eingangs präsentierten Karikaturen von Chappatte sagten mehr über die Verfassung des Landes aus als die Voten danach.

Wenn der Opener gleichzeitig schon der Höhepunkt einer als vielversprechend annoncierten Debatte ist, so sagt das viel aus über die Inspiriertheit der Diskussions-Teilnehmer. Und ihre Bereitschaft, sich auf kreative Weise mit den Argumenten der Gegenseite auseinander zu setzen. Es sagt zugleich auch etwas über die Rolle des Gesprächsleiters.

So geschehen am Open Forum in Davos: Die Liste der klingenden Namen auf dem Podium umfasste unter anderen Nestlé-Boss Peter Brabeck, den Schweizer Innenminister Pascal Couchepin und Thomas Held, Kopf des Think Tanks Avenir Suisse. Nicht zu vergessen den Publizisten Roger de Weck als Moderator.

Doch die meisten der Podiumsteilnehmer blieben in ihren Beiträgen weit hinter der Schärfe und dem sprühendem Geist zurück, mit denen der Genfer Karikaturist Patrick Chappatte in seinen eingangs gezeigten und kommentierten “Dessins politiques” aktuelle Befindlichkeiten in der Schweiz einfing.

Was bedeutet “Unique”?

Er habe sich immer gefragt, was es mit dem neuen Namen Unique für den Flughafen Kloten auf sich habe, kommentiert der Genfer maliziös eine Zeichnung, die das riesige Firmenlogo zeigt.

Er legt darüber eine zweite Folie auf den Hellraum-Projektor, und das Firmenschild wird plötzlich zur Anzeigetafel, die einen einzigen Swiss-Flug ankündet – nach Genf… Lacher und Applaus im voll besetzten Saal dürften klaren Dezibel-Rekord für das Open Forum bedeuten.

Integrationspotenzial

“Die Schweiz: Vom Musterland zum Durchschnittsstaat?” Thomas Held streicht heraus, dass das Land immer noch ganz grosse Stärken aufweise, beispielsweise in der Ausländerfrage: “Es ist in zwei Dekaden gelungen, viele Gruppen von Ausländern zu integrieren.”

Peter Brabeck kann Chappattes gezeichnete Analysen so nicht stehen lassen und gibt den Rat, dass die Schweiz ihr “inneres Bild” wieder festige. “Die Wahrnehmung ist im Ausland viel positiver als im Inland”, hielt der Nestlé-CEO fest. Und: “Es ist falsch, sich zu zerfleischen.”

Bundesrätlicher Optimismus

Bundesrat Pascal Couchepin zeichnet das Bild der Schweiz als klein gewordenes Land, in dem Werte verschwunden sind, weil die Welt globaler und demokratischer geworden sei.

“Wir können nicht alle Probleme lösen, haben aber punkto Bekämpfung der Armut, Umweltschutz und Integration von Ausländern gute Resultate erzielt”, so der Innenminister. Sein positives Fazit: “Wir sind nicht perfekt, aber wir sind nicht schlecht.”

Dem widerspricht Heiner Studer, Nationalrat und Stiftungsrats-Präsident des Hilfswerks Brot für alle, in dem er der Armutsbekämpfung ein schlechtes Zeugnis ausstellt. “Der Bund bewegt sich wieder weiter weg von der angestrebten 0,4%-Marke des Brutto-Sozialproduktes, welche er für Entwicklung ausgeben möchte.”

Bürgerliberalismus ade

Peter Ulrich, Professor für Wirtschaftsethik an der Hochschule St. Gallen, spricht in seiner Analyse von der Schweiz als “dem einzigen Land in Europa mit einer gelungenen bürgerlichen Revolution, die für den Traum von einer Gesellschaft freier und gleicher Bürger steht”.

Der damalige Liberalismus sei aber heute von einem “platten
Wirtschaftsliberalismus” geschluckt worden, der die Schweiz erneut zu einem Sonderfall mache: “Sie ist weltweite Provinz eines rosinenpickenden Krämergeistes geworden.” Wer aber immer noch eine Vorbildrolle beanspruche, sollte aufhören, anderen zu schaden, so Ulrich.

Besinnung auf Kirchen-Persönlichkeiten

Der in Genf lebende Ghanese Setri Nyomi, Generalsekretär des Reformierten Weltbundes, ist als Vertreter Afrikas für die konkreteste Kritik besorgt. Die Schweiz sei für ihn lange ein Musterland gewesen, die hervorragende Persönlichkeiten der Kirche hervorgebracht habe.

“Zwingli und Calvin haben gezeigt, wie Reichtum für alle in der Welt genutzt werden kann”, so Nyomi. Wieso habe sich das Land mit solchen Traditionen nicht an die Spitze des Kampfes gegen die Apartheid gestellt? “Die Schweiz muss ihre historisch gewachsenen Werte, für die sie steht, wieder beleben, damit die Leute in Afrika in Würde leben können.”

Brabeck sieht das Rezept zur Lösung der vom Ghanesen angesprochenen Probleme in der “freien liberalen Wirtschaft”. Diese biete die beste Garantie für menschenwürdiges Leben und Wohlstand aller.

Markt spielt nicht

Der Wirtschaftsethiker Ulrich widerspricht: Neoliberalismus heisse
Leistungs-Wettbewerb auf allen Märkten. “Die Position des Finanzplatzes Schweiz beispielsweise aber beruht ganz klar auf Formen von staatlichem Protektionismus.”

Zukunftsforscher Held nimmt das Stichwort Liberalismus auf, in dem er eine Erneuerung der liberalen Werte in der Schweiz fordert. Denn in der Bürgergesellschaft des 19. Jahrhunderts habe das Private einen hohen Stellenwert gehabt.

Er erwähnt die persönliche sowie die Handels- und Gewerbefreiheit. “Studien beweisen, dass es dort, wo Eigentumsrechte nicht geschützt sind, keine Entwicklung gibt.”

Applaus im Saal, aber ein ziemlich verhaltener. Wunsch nach Ende der Veranstaltung: Chappatte am Open Forum 2006 nicht mehr als launigen Opener, sondern als Wortstreiter auf dem Podium. Zur Freude des Publikums, zur Vertiefung der Debatte.

swissinfo, Renat Künzi in Davos

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