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“Phantasie ist eines der wichtigsten Organe”

Franz Hohler spricht mit seinen Geschichten alt und jung an. swissinfo.ch

Franz Hohler zieht an den Solothurner Literaturtagen rund zweihundert Kinder und Erwachsene in seinen Bann. Bis vor den Bühnenrand drängen sich die Kinder. Aufmerksam hören sie den Geschichten zu und bedanken sich für jede mit lautem Applaus.

Gegenüber swissinfo spricht Franz Hohler über die Bedeutung der Phantasie, die Rückkehr von Bären und den Unterschied zwischen jungen und alten Lesern.

swissinfo: Wie unterscheidet sich bei Ihren Lesungen ein Kinder- von einem Erwachsenenpublikum?

Franz Hohler: Die Kinder sind ein unerbittlicheres Publikum als die Erwachsenen. Ich merke sehr rasch, wenn sie sich langweilen. Die Erwachsenen können das sehr gut kaschieren, aber ich merke an kleinen Zeichen, wenn es mir nicht gelingt, sie zu fesseln. Kinder werden dann einfach unruhig. Wenn ich sie unterhalten kann, sind sie ein sehr dankbares und engagiertes Publikum.

Ich erlebe das öfters in den Reaktionen auf meine Tschipo-Kinderromane. Kinder schreiben mir, was ihnen gefallen hat. Etwa: “Unsere Lehrerin hat uns das Buch Tschipo erzählt. Es ist sehr gut. Sie können ruhig so weiter schreiben.”

Es passiert aber auch das Gegenteil: “Sie haben sich sicher Mühe gegeben und ihrer Phantasie freien Lauf gelassen, aber wenn Sie Karriere machen wollen, gebe ich Ihnen einen Tipp: schreiben Sie über Panzer und Waffen und solche Sachen, das erwartet die Jugend.”

Dann stehe ich ein bisschen mit abgesägten Hosenbeinen da und überlege mir, wie ich dieses Kind erreichen kann und mit welcher Geschichte ich es abholen könnte. Kinder sind direkt. Von Erwachsenen kommen selten solche Briefe.

swissinfo: Was bedeuten Ihnen die Auftritte vor Publikum?

F.H.: Ich habe schon als Kind Geschichten geschrieben. Schon immer hatte ich auch das Bedürfnis, diese Texte auch vorzutragen. Für mich ist eine Geschichte erst dann zu Ende erzählt, wenn ich sie einem Publikum vorgetragen habe. Das ist der Erzählerinstinkt, der wahrscheinlich so alt ist wie der Jagdinstinkt. Denn vor der Erfindung der Schrift zogen die Erzähler von Ort zu Ort und trugen ihre Geschichten auf Marktplätzen vor.

Ich hoffe, dass meine Bücher leben, ohne dass ich sie selbst vortrage. Doch ich lese gerne vor, weil ich dann meine direkte Quittung von den Leuten erhalte, die zuhören – seien das Kinder oder Erwachsene.

swissinfo: In der Geschichte “Als ich zwanzig war” steht, dass Sie in Ihrem Matura-Aufsatz vor allem über Phantasie geschrieben haben. Ist Ihnen das Thema Phantasie heute immer noch wichtig?

F.H.: Ich halte die Phantasie für eines der wichtigsten Organe des Menschen. Wir sollten Sorge dazu tragen, dass dieses Organ seine Nahrung kriegt und nicht verkümmert, denn es wird eher zu wenig als zu viel gepflegt.

In unseren Lehrplänen wird die Phantasie immer weiter zurückgestellt. Ich halte das für eine bedenkliche Entwicklung. Phantasie ist auch im Alltag wichtig.

Franz Kafka, der den ersten Weltkrieg als Zeitzeuge miterlebt hatte, sagte: “Dieser Krieg ist auch wegen einem furchtbaren Mangel an Phantasie entstanden.” Kriege entstehen aus Phantasielosigkeit.

swissinfo: Die Natur ist Ihnen wichtig. In der Erzählung “Die Rückeroberung” aus dem Jahr 1982 erobert sich die Natur ihren Platz zurück. Adler, Hirsche, Bären und Wölfe ziehen in die Stadt. Was denken Sie über die aktuellen Diskussionen über zurückkehrende Bären und Wölfe?

F.H.: Ich freue mich, wenn sie zurück kommen, obwohl man sich darüber im Klaren sein muss, dass das nicht ohne Probleme ist. Ich weiss auch nicht, ob ich mich freuen würde, wenn ich auf einem Wanderweg plötzlich einem Bären gegenüber stünde. Trotzdem denke ich, dass diese Tiere dazugehören.

Es wäre ja auch denkbar, dass anstelle der Menschen die Bären die stärksten Wesen der Natur geworden wären und wir Menschen versuchen würden, in die Bärenwelt einzudringen.

Nun ist aber der Mensch der Stärkere. Gleichzeitig sind wir vollkommen von der Natur abhängig. Liefert sie uns nicht unsere Nahrung, sind wir erledigt. Die Frage ist, wie sehr wir diese Natur nach unserem Willen und Nützlichkeitsgedanken gestalten, ob wir in der Lage sind, mit dem Wesen der Natur umzugehen.

swissinfo: Täglich liest und hört man Meldungen über die Klimaerwärmung, aussterbende Tierarten und Klimakatastrophen. Was geht Ihnen bei solchen Meldungen durch den Kopf?

F.H.: Ich bin ja mittlerweile ins AHV-Alter vorgerückt und habe somit eine längere Zeitspanne erlebt. Anfang der 70er-Jahre habe ich den ersten Bericht des Club of Rome gelesen: “Grenzen des Wachstums”. Es wurde ein Szenario einer Klimaerwärmung beschrieben. Ich habe 1973, als Reaktion auf diesen Bericht, eine Ballade geschrieben: Der “Weltuntergang”. Ich trage sie auch heute noch vor. Sie enthält vieles davon, was jetzt geschieht. Es ist erstaunlich, wie lange diese Probleme bekannt sind. Wir haben alle zu spät reagiert.

Der Lauf der Welt ist nicht wirklich vorhersehbar. Wir können Entwicklungen absehen, wir können mögliche Szenarien vergegenwärtigen. Ob es dann wirklich so kommt, ist eine andere Sache.

Ich glaube an die regenerative Kraft der Natur. Ich kann mir ein Szenario vorstellen, bei dem die Menschen aussterben und die Insekten überleben, und dann kommt der zweite Versuch.

Sandra Grizelj Solothurn, swissinfo.ch

Zum 32. Mal stand das Wochenende nach Auffahrt in Solothurn ganz im Zeichen der Literatur: Von Freitag bis am Sonntag fanden 70 Veranstaltungen mit 92 Autorinnen und Autoren statt.

Der Schriftsteller Franz Hohler ist 1943 in Biel geboren und lebt heute in Zürich. Seit vierzig Jahren schreibt er Bücher für Kinder und Erwachsene.

Zuletzt erschienen ist “Das grosse Buch”, das seine Kindergeschichten vereint. 2008 erschien sein Erzählband für Erwachsene “Das Ende eines ganz normalen Tages”.

Hohler hat zahlreiche Preise gewonnen. Im Jahr 2008 erhielt er den Salzburger Ehrenstier für sein Lebenswerk, was gleichzeitig sein Abschiedsgeschenk war: Nach 40 Jahren trat Hohler von der Bühne ab. 2005 erhielt er den Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank, 2002 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor.

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