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“Manchmal sage ich mir, dass mein Beruf einfach grossartig ist!”

Michael Jackson, gerahmt wie ein Gemälde: Porträtfoto von Henry Leutwyler
Michael Jackson, gerahmt wie ein Gemälde: So hat Henry Leutwyler die Pop-Ikone porträtiert. 2009 Henry Leutwyler Photography

Noch bis zum 30. September 2018 findet in Vevey das Festival ImagesExterner Link, die Biennale für visuelle Künste, statt. Besucher können 61 Kunstprojekte aus 19 Ländern im öffentlichen Raum – sowohl im Freien als auch in ungewöhnlichen Innenräumen – entdecken. Am Genfersee sind auch Werke des Schweizer Fotografen Henry Leutwyler zu sehen. Der in New York lebende Starporträtist im Interview.


Michael Jackson und Frank Sinatra – zwei Ikonen der amerikanischen Musik. Und beide porträtiert von Henry Leutwyler.

Was den Rahmen des Gewohnten sprengt, zieht Leutwylers Blick auf sich. Der Fotograf ist 57, in Aarau geboren und lebt seit 1985 im Ausland. Während er in Übersee als selbständiger Fotograf und Mitarbeiter namhafter amerikanischer Magazine eine steile Karriere hingelegt hat, wird er in der Schweiz jedoch kaum wahrgenommen.

Schuh des Michael Jackson
Der Schuh des Michael Jackson. 2009 Henry Leutwyler Photography

Der neugierige Abenteurer und risikofreudige Profi hat sich 2009 nach Kalifornien aufgemacht, um im Zusammenhang mit einer öffentlichen Versteigerung die persönlichen Effekten von Michael Jackson zu fotografieren – Reliquien, ebenso wie das Adressbuch von Frank Sinatra, das Leutwyler bei einem Schweizer Sammler aufgestöbert und Seite für Seite abgelichtet hat.

swissinfo.ch: Was ist das Extravagante an Ihren Werken, die Sie in Vevey ausstellen?

Henry Leutwyler: In Bezug auf Michael Jackson würde ich sagen, dass sein Leben extravagant war, nicht meine Fotos. Und dieses Leben wollte ich über die persönlichen Gegenstände des Sängers einfangen: den glitzernden weissen Handschuh, diamantbesetzte Schuhe und Socken, Hemd mit Fliege und so weiter.

swissinfo.ch: Eigentlich die Aufmachung eines Clowns, oder?

H.L.: Ich glaube, es war wohl eher jene Peter Pans, des Jungen, der in seinem kleinen Reich lebte und nicht erwachsen werden wollte. Das ist auch ein wenig die Geschichte von Michael Jackson, der schon mit sechs oder sieben Jahren auf der Bühne stehen musste und später ständig versucht hat, seine Kindheit, die man ihm gestohlen hatte, nachzuholen.

swissinfo.ch: Und was ist mit Frank Sinatra?

H.L.: Bei ihm hat das Extravagante mit seinem Status als Sänger-Ikone zu tun. Aber nicht nur das; es hängt auch mit seiner schauspielerischen Arbeit zusammen: seinen angeblichen Kontakten zur Mafia, die ihm zu gewissen Filmrollen verholfen haben sollen.

Mit all den Adressen, die er darin festhielt, stellt Sinatras Notizbuch ein wichtiges historisches Dokument dar. Was schliesslich meine Person betrifft: Ich halte mich nicht für extravagant. Meine Reisen dagegen schon.

Doppelseite aus dem Adressbuch Frank Sinatras
Gene Kelly und Henri Kissinger vereint: Doppelseite aus dem Adressbuch Frank Sinatras. Hasselblad H6D

swissinfo.ch: Inwiefern?

H.L.: Ich bin geradezu erschreckend viel unterwegs. Vergangenes Jahr habe ich zwischen 240’000 und 280’000 Meilen im Flugzeug zurücklegt, dazu kommen noch all die Zug- und Autofahrten. Ich jette aus beruflichen Gründen um die ganze Welt.

Und wenn ich dann mal eine Stunde für mich habe, packt mich bereits die Abenteuerlust. Ich ziehe einfach los, ohne Hotelreservation, ohne Plan, nur mit dem einen Wunsch: mich überraschen zu lassen.

swissinfo.ch: Sie haben Porträts von weltbekannten Tänzern, Schriftstellern und Schauspielern realisiert, unter anderem von Filmstars wie Denzel Washington und Julia Roberts, jedoch kein einziges Selbstporträt. Weshalb?

H.L.: Na ja, mit Porträts von mir haben sich schon zahlreiche Berufskollegen befasst, da muss ich nicht auch noch damit anfangen. Und ausserdem, so schön bin ich nun auch wieder nicht!

swissinfo.ch: Ihr Bildband “Document” illustriert jedoch einen Teil Ihrer Identität: Darin findet sich das Foto eines Briefes, den Sie 1981 von der Ecole d’arts appliqués in Vevey erhielten, die sich weigerte, Sie als Schüler aufzunehmen. Stellt Ihr Erfolg heute so etwas wie eine Revanche dar?

H.L.: Dazu muss man sagen, dass es damals bei den Bewerbungen ein ziemlich absurdes Auswahlverfahren gab. Ich weiss nicht, wie das heute gehandhabt wird.

Porträt von Henry Leutwyler
Henry Leutwyler: “Niemand ist Prophet im eigenen Land”. © Sharon Suh

Was ich hingegen sehr wohl weiss, ist, dass ich zwischen 1985 und 1995, also in den zehn Jahren, in denen ich in Paris arbeitete, von Schweizer Medien nie auch nur einen Anruf wegen einer Auftragsarbeit erhalten hatte. Erst vor acht Jahren kontaktierte mich das Zürcher Frauenmagazin Annabelle für das Cover einer Ausgabe mit weiblichen Schweizer Stars.

Ich musste bis 2017 warten, um zu erleben, dass mein Werk Gegenstand einer grossen Ausstellung in der Schweiz wurde. Das war im Musée des Beaux-Arts in Le Locle. Auch andere Schweizer Kulturinstitutionen haben mir, nebenbei gesagt, jegliche Unterstützung verwehrt, unter dem Vorwand, ich sei hierzulande zu wenig bekannt. Aber was soll’s, keiner ist Prophet im eigenen Land.

swissinfo.ch: Sie leben seit mehr als 20 Jahren in New York. Was hat Ihnen Amerika gebracht?

H.L.: Freiheit …, die Freiheit, die mir Europa nicht gegeben hat. In Paris habe ich schnell verstanden, dass man als uninteressant gilt, wenn man nicht der Sohn von Herrn Soundso ist, keine hübsche Freundin hat oder mit Beziehungen zu hochrangigen Persönlichkeiten aufwarten kann.

In New York hingegen hat man mich nie nach meinem Auto oder meiner Uhr beurteilt, sondern nach meiner Arbeit als Fotograf. Es ist schon klar, dass auch in den Vereinigten Staaten das Geld nicht auf der Strasse liegt, man muss am Ball bleiben, aber wenigstens fragt niemand, woher man kommt.

swissinfo.ch: Sie haben unter anderem für das New York Times Magazine gearbeitet. Was unterscheidet Sie vom grossen amerikanischen Fotografen Philippe Halsman, der wie Sie Stars porträtierte und dem Life Magazine um die Mitte des 20. Jahrhunderts goldene Zeiten bescherte?

H.L.: Ich mag Philippe Halsman sehr, glaube aber, dass man zwischen uns nicht den geringsten Vergleich ziehen kann. Halsman ist viel karikaturaler und ausgefallener als ich. Ich manipuliere sehr wenig, oder anders gesagt, ich bleibe den Wesenszügen der Porträtierten treu.

Mich inspiriert eher Irving Penn. Ich habe alles angewendet, was ich an seiner Kunst schätze, sowohl bei den Modeporträts als auch bei den Stillleben. Meine Arbeit besteht darin, eine Realität zu dokumentieren: Ich bin der Archäologe, der noch nicht Entdecktes “offenlegt”.

swissinfo.ch: Zum Beispiel?

H.L.: Die Pistole, die John Lennon tötete und die, bevor ich sie fotografierte, mit Ausnahme der New Yorker Polizei noch nie jemand gesehen hatte. Ich bin in Queens auf den Polizeiposten gegangen, um die Genehmigung für das Foto einzuholen. Heute dient es als Cover für meinen Bildband “Document”.

Manchmal sage ich mir, dass der Beruf, den ich ausübe, einfach grossartig ist!

(Übertragung aus dem Französischen: Cornelia Schlegel)

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