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Neue Formen von Konflikten

AFP

Der Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Peter Maurer, versucht, die Organisation transparenter zu machen. In einem Interview mit swissinfo.ch spricht er über die Herausforderungen der IKRK-Arbeit in der Zentralafrikanischen Republik und in Syrien.

swissinfo.ch traf Maurer am IKRK-Hauptsitz in Genf, nachdem er von einer aufreibenden Reise zurückgekehrt war. Seit Januar hatte er in Syrien, Irak, Südsudan und in der Zentralafrikanischen Republik Feldoperationen des IKRK besucht und zahlreiche Treffen gehabt.

Im vergangenen Jahr war das IKRK 150 Jahre alt geworden. 2014 steht ein weiteres 150-Jahre-Jubiläum an – 1864 war die Erste Genfer Konvention unterzeichnet worden, der Ausgangspunkt des humanitären Völkerrechts.

swissinfo.ch: Sie kamen eben zurück aus der Zentralafrikanischen Republik, wo die Lage sehr düster ist. Was sind die Prioritäten?

Peter Maurer: Viele der Dinge, die geschehen müssten, gehören nicht zum Kernmandat des IKRK, und wir ermutigen andere Akteure, sich zu engagieren. Unter anderem muss die internationale Sicherheit verstärkt werden. In einem Land, wo es derzeit keine funktionierende Armee oder Polizei gibt, muss die Sicherheit durch eine glaubwürdige internationale Präsenz bereit gestellt werden.

Ich würde es begrüssen, wenn sich Länder im UNO-Rahmen auf eine glaubwürdige Operation einigen könnten, um die Aktivitäten der von Afrika geleiteten Friedenstruppen und jenen Frankreichs zu verstärken.

Zudem brauchen wir mehr glaubwürdige Abrüstungsbemühungen. Derzeit geschieht in diesem Zusammenhang nicht viel. Auf IKRK-Seite braucht es mehr Engagement für Rechtsstaatlichkeit und Gerechtigkeit.

Das zentrale Problem in der Zentralafrikanischen Republik ist, dass es keinen glaubwürdigen und inklusiven politischen Prozess gibt, welcher der internationalen Gemeinschaft das Vertrauen geben würde, um in all die Stabilisierungsprozesse zu investieren.

Derzeit befinden wir uns hier in einem völligen Substitutionsmodus: Es gibt praktisch keine staatlichen Versorgungsstrukturen, was Wasser, sanitäre Einrichtungen und Gesundheitswesen angeht. Zehntausende von Menschen wurden im ganzen Land zu Vertriebenen.

swissinfo.ch: Für Syrien hat der UNO-Sicherheitsrat am 22. Februar einstimmig eine Resolution verabschiedet, die schnellen, sicheren und ungehinderten Zugang für humanitäre Hilfe forderte, über Konfliktlinien und Grenzen hinweg. Welchen Wandel hat das IKRK seither erlebt?

P.M.: Trotz diplomatischer Bemühungen und der Sicherheitsrat-Resolution hat sich die allgemeine Dynamik nicht verändert. Das allgemeine Muster ist nach wie vor schwierig, der Zugang bleibt schwierig, die Vertreibungen nehmen weiterhin zu und damit wachsen auch die Bedürfnisse und humanitären Belange.

Es gibt keine Beweise, dass die Gewalt zu- oder abgenommen hat. Die militärischen Operationen dauern an, Menschen werden weiterhin vertrieben und zwischen den Fronten gefangen. Der Zugang zu diesen Leuten gestaltet sich sehr schwierig. Die Bedürfnisse sind riesig, und die Möglichkeiten, darauf zu reagieren, sind nur ein Tropfen auf den heissen Stein.

In einigen Gebieten hat es etwas Fortschritte gegeben. Seit Januar konnten wir einige Operationen durchführen, über Konfliktlinien hinweg in besetzten Gebieten. Unter anderem einen bedeutenden Konvoi nach Barzeh. Und wir erhielten Visa für wichtige Regionen, die uns ermöglichten, nicht nur von Damaskus und Aleppo aus zu arbeiten, sondern auch mit einer IKRK-Präsenz in Homs, Hama und Tartous.

Es gibt einige Schritte nach vorn und positive Entwicklungen – wir unterstützen heute mehr Menschen als vor zwei Monaten –, aber das Problem ist, dass die Bedürfnisse mindestens so rasch, wenn nicht noch rascher steigen, die Kluft bleibt daher eine extreme Herausforderung.

Peter Maurer wurde 1956 in Thun geboren. Er studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Völkerrecht in Bern und Perugia (Italien).

1987 trat er in den Dienst des Departements für auswärtigen Angelegenheiten (EDA) ein, wo er verschiedene Funktionen inne hatte.

Unter anderem war er von 1996 bis 2000 erster Mitarbeiter des Chefs der damaligen Ständigen Beobachtermission der Schweiz bei der UNO in New York. 2000 wurde er zum Botschafter ernannt und war bis 2004 Chef der damaligen Politischen Abteilung IV der Politischen Direktion im EDA in Bern.

Von September 2004 bis Frühjahr 2010 war er UNO-Botschafter der Schweiz in New York, ab März 2010 EDA-Staatssekretär.

Am 1. Juli 2012 trat Maurer sein Amt als IKRK-Präsident an.

Maurer ist verheiratet und Vater von zwei Töchtern.

swissinfo.ch: In Ihren fast zwei Jahren als IKRK-Chef haben Sie versucht, einen neuen Managementstil zu etablieren, indem Sie die Leute auffordern, Sie “Peter” zu nennen statt “Präsident”. Warum?

P.M.: Ich habe keine fixe Idee, was Führung angeht. Ich bin, wer ich bin. Ich wurde gewählt, um diese Organisation zu leiten und ich will nicht grundlegend anders sein, als ich bin. Sonst ist man kein glaubwürdiger Präsident, keine glaubwürdige Führungskraft.

Ich denke, wir leben in einer Zeit, in der flüssigere Interaktionen zwischen Führung und Management der Organisation wichtig sind – nicht nur in dieser Organisation, sondern auch in einem breiteren Umfeld. Wir brauchen agile Organisationen, die sich dynamisch entwickeln, was ihre Rollen und Entscheidungsprozesse betrifft. Das steckt hinter einer kollegialeren Umgangsart. Das passt zu mir als Person und ist zugleich zeitgemäss für die Organisation.

swissinfo.ch: Mehr Transparenz scheint auch ein neues Ziel zu sein, wie durch Ihr Twitter-Konto und eine TV-Dokumentarserie angedeutet wird, die IKRK-Delegierte im Einsatz begleitet, was einen Blick hinter die Kulissen ermöglicht.

P.M.: Während seiner Geschichte wurde die Identität des IKRK stark geprägt vom Gebot der Vertraulichkeit. Dort, wo es notwendig ist, müssen wir uns an die Verpflichtung halten, vertraulich zu arbeiten. Wir müssen aber auch überdenken, wie dieses Gebot in der Organisation zur Anwendung kommt.

Als ich mein IKRK-Amt antrat, stiess ich auf viele Dinge, die als vertraulich betrachtet wurden, die ich persönlich nicht vertraulich fand. Es geht nicht um Transparenz und Offenheit als Gegensatz zur Vertraulichkeit, sondern als sinnvolle Ergänzung.

Es gibt gute Gründe, bei vielen der Themen, über die wir sprechen, transparenter zu sein, forscher zu sein und offen, was unsere Zweifel und die Fragen angeht, die wir uns selber stellen. Wir sollten nicht den Ehrgeiz haben, unter uns in einer dunklen Kammer zu arbeiten und der Welt dann eine Lösung zu unterbreiten. Das ist nicht mehr die Welt, in der wir heute leben.

Wir bewegen uns in einem internationalen humanitären System, in dem auch andere denken, wir müssen Teil dieses Denkprozesses sein und unsere Rolle finden. Dazu braucht es Engagement, Partnerschaft und Transparenz, wie auch jene Aktivitäten, die zu gewissen Zeiten und unter bestimmten Umständen ausserhalb des Rampenlichts erfolgen, so dass wir in Ruhe arbeiten können.

P.M.: Während seiner Geschichte wurde die Identität des IKRK stark geprägt vom Gebot der Vertraulichkeit. Dort, wo es notwendig ist, müssen wir uns an die Verpflichtung halten, vertraulich zu arbeiten. Wir müssen aber auch überdenken, wie dieses Gebot in der Organisation zur Anwendung kommt.

Als ich mein IKRK-Amt antrat, stiess ich auf viele Dinge, die als vertraulich betrachtet wurden, die ich persönlich nicht vertraulich fand. Es geht nicht um Transparenz und Offenheit als Gegensatz zur Vertraulichkeit, sondern als sinnvolle Ergänzung.

Es gibt gute Gründe, bei vielen der Themen, über die wir sprechen, transparenter zu sein, forscher zu sein und offen, was unsere Zweifel und die Fragen angeht, die wir uns selber stellen. Wir sollten nicht den Ehrgeiz haben, unter uns in einer dunklen Kammer zu arbeiten und der Welt dann eine Lösung zu unterbreiten. Das ist nicht mehr die Welt, in der wir heute leben.

Wir bewegen uns in einem internationalen humanitären System, in dem auch andere denken, wir müssen Teil dieses Denkprozesses sein und unsere Rolle finden. Dazu braucht es Engagement, Partnerschaft und Transparenz, wie auch jene Aktivitäten, die zu gewissen Zeiten und unter bestimmten Umständen ausserhalb des Rampenlichts erfolgen, so dass wir in Ruhe arbeiten können.

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Sternstunde Philosophie vom 10.03.2013: Gespräch mit IKRK-Präsident Peter Maurer

swissinfo.ch: Im letzten Jahr wurde das IKRK 150 Jahre alt. In einem Interview erklärten Sie: “Eher als eine Gelegenheit zum Selbstlob sollte das Jubiläum eine Zeit der zukunftsorientierten Reflektion und Umwidmung sein.” Welche neuen Ideen haben Sie aus diesem wichtigen Jahr mitgenommen?

P.M.: Viele Kernbereiche im Ansatz der Arbeit des IKRK über die letzten 150 Jahre hinweg bleiben sehr wahr und aktuell: Eine Organisation, die Unterstützung, Schutz und die Entwicklung von Recht kombiniert durch Feldeinsätze, Nähe zu den Opfern und einem Engagement mit allen Akteuren. Dies sind operationelle Prinzipien, die genau wie unsere Neutralität, Unparteilichkeit und Vertraulichkeit jeden Tag Gültigkeit haben.

Doch wir leben in einer Zeit, in der wir sehen, wie sich neue Formen von Konflikten entwickeln, mit neuen Arten von Akteuren und Waffen. Auch das humanitäre Umfeld verändert sich. Wir sind nicht die einzigen, die humanitäre Unterstützung und Schutz bieten.

Im Zeitraum 2015-2018 werden wir versuchen, auf diese Entwicklung zu reagieren, indem wir Tradition mit dem neuen Umfeld verknüpfen. Wir werden ohne Zweifel weiterhin grossen Akzent auf unser Schutzmandat legen und unsere Partnerschaften genau definieren – was sie bedeuten und wo die Grenzen liegen. Wir werden auch neue Entwicklungen von Gewalt, Bewaffnung und Akteure angehen. Das braucht einiges an neuen Denkansätzen, da es keine gebrauchsfertigen Rezepte gibt, wie den neuen Herausforderungen begegnet werden kann.

swissinfo.ch: 2014 ist ein weiteres Jubiläumsjahr – 150 Jahre seit der Unterzeichnung der Ersten Genfer Konvention. Ist ein solches rechtliches Instrument angesichts von Konflikten wie in Syrien, Südsudan oder der Zentralafrikanischen Republik, wo Spitäler und Pflegekräfte, die Verwundete versorgen, regelmässig angegriffen werden und Verletzte keine Behandlung erhalten, nicht einfach irrelevant geworden?

P.M.: Das bedeutet nicht, dass dieses Recht nicht relevant ist, sondern einfach, dass die Herausforderungen weitergehen. Es zeigt, dass wir es mit einer schwierigen Angemessenheit zwischen der Realität auf dem Schlachtfeld und dem Recht zu tun haben. Es ist keine Frage, dies sind gute Normen.

Es zeigt, dass wir neue Wege finden müssen im Umgang mit Akteuren, Tätern und Situationen, damit das humanitäre Völkerrecht besser respektiert wird. Aber das ist eine Frage der Umsetzung des Rechts und nicht der Relevanz des Rechts. Es könnte sein, dass das IKRK und viele andere manchmal Zeit, Energie und Aufwand unterschätzt haben, die es braucht, um zu erklären, was dieses Recht konkret bedeutet.

Die Prinzipien sind gut, die gegenwärtige Situation unterstreicht jedoch, dass wir die Bemühungen verdoppeln müssen, damit diese Prinzipien verstanden und respektiert werden.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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