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Immer weniger stille Oasen in der Schweiz

Keystone

Lärm ist ein Nebenprodukt des modernen Lebens. Doch ist der Preis, den wir für zunehmende Mobilität und Entwicklung bezahlen, zu hoch? Urs Walker vom Bundesamt für Umwelt (Bafu) erklärt im Interview, der richtige Kampf gegen den Lärm habe eben erst begonnen.

Schätzungsweise eine von sechs Personen in der Schweiz ist im Alltag schädlichem Lärm ausgesetzt, was etwa dem Durchschnitt in Europa entspricht. Laut den Schweizer Behörden sind 1,3 der insgesamt 8 Millionen Bewohnerinnen und Bewohner der Schweiz zu viel Lärm ausgesetzt.

Fortschritte in der Lärmverminderung wurden zwar erreicht, doch der Lärm bleibt immer noch eines der schwerwiegenden und unterschätzten Umweltprobleme unserer Zeit.

Laut Urs Walker, Chef der Abteilung Lärmbekämpfung im Bundesamt für Umwelt, wurden die meisten Probleme im Zusammenhang mit Industrielärm seit der Einführung von Lärm-Grenzwerten 1987 gelöst. Die grössten Lärmquellen seien heute die Strasse, die Schiene und der Luftverkehr.

Er ist der Meinung, es sei an der Zeit, dass man Frieden und Ruhe als wichtige Quellen unseres Lebens zu betrachten beginne, ohne die wir nicht leben könnten.

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Der Schweiz die Lautstärke herunterdrehen

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Empa, eine interdisziplinäre Forschungs- und Dienstleistungsinstitution für Materialwissenschaften und Technologieentwicklung, gehört zur Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ). Sie führt komplexe Tests durch, um die Behörden bei der Festlegung von Lärmschutz-Richtlinien zu unterstützen. Doch sie arbeitet auch mit Industriepartnern zusammen, um lärmschluckende Materialien zu entwickeln. swissinfo.ch hat die Tonlabors in Dübendorf besucht. (Julie Hunt/swissinfo.ch)

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swissinfo.ch: Wir können die Zeit nicht zurückdrehen. Die zunehmende Mobilität ist eine Tatsache. Sollten wir den Lärm nicht einfach als Preis für den Fortschritt annehmen?

Urs Walker: Lärm wird oft als Nebenprodukt der Zivilisation angesehen, mit dem man einfach leben müsse. Doch Lärm kann unserer Gesundheit schaden, wenn die Lautstärke zu lange zu hoch ist.

Lärm ist nicht etwas, woran man sich gewöhnt. Wir denken vielleicht, wir hätten uns daran gewöhnt, aber der Körper kann dies nicht. Der Organismus wird auf die Lärmbelastung reagieren. Meiner Meinung nach ist es daher falsch, hohe Lärmpegel als nötiges Übel zu akzeptieren. Wir müssen etwas dagegen tun.

swissinfo.ch: Ist es im Alltagsleben in der Schweiz überhaupt noch möglich, Frieden und Ruhe zu finden?

U.W.: Ich denke, es gibt immer noch stille Oasen in der Schweiz, besonders in den Wäldern und Bergen, doch es hat immer weniger davon. Das heisst, es gibt immer mehr Lärm, der auch bis in die alpinen Bergtäler hinaufgelangt.

Stille ist ein unsichtbarer Wert. Ohne Stille könnten wir überhaupt nicht existieren. Ich spreche nicht über die Totenstille in der Wüste, sondern über natürliche Umgebungsgeräusche aus der Landschaft, die für unser Wohlbefinden als Menschen wichtig sind. Wir brauchen so etwas nicht nur auf der Alpwiese, sondern auch in der Nähe unseres Wohn- und Arbeitsortes.

Lärm verursacht Stress und kann krank machen. Jedes störende Geräusch versetzt den Körper in Alarmbereitschaft, es werden Stresshormone wie Adrenalin oder Kortisol ausgeschüttet, das Herz schlägt schneller, der Blutdruck steigt an und die Atmung wird schneller.

Andere Nebeneffekte:

• Niedergeschlagenheit

• Störung der Konzentration

• Beeinträchtigung des Leistungsvermögen

• Herz-Kreislauf-Probleme

• Störungen des Schlafs bis hin zu Aufwachen

• Schläfrigkeit infolge gestörten Schlafs

(Quelle: Bundesamt für Umwelt)

swissinfo.ch: Lärm ist zu einem gesellschaftlichen Problem geworden, das zu Konflikten und Gerichtsprozessen führt. Wie soll man damit umgehen?

U.W.: Das ist eine der grossen Herausforderungen der Zukunft. Ein Beispiel: Es gibt Leute, die möchten abends und am Wochenende in die Stadt in einem Nachtklub feiern – zur gleichen Zeit wollen die Anwohner ruhig schlafen können. Es ist schwierig, diese unterschiedlichen Interessen zu überbrücken, doch wir müssen Lösungen finden.

Das andere Problem: Die traditionell geteilten Werte, wann man ruhig sein sollte und wann nicht, gelten nicht mehr. Junge und ältere Menschen entfernen sich in dieser Frage immer mehr voneinander.

swissinfo.ch: Was wurde in den letzten Jahren in Sachen Lärmschutz erreicht?

U.W.: Seit den 1980er-Jahren hat jedes Strassen- oder Eisenbahnprojekt den Lärmschutz automatisch mit einbezogen. Das heisst, der Lärmschutz wird für jede Baubewilligung in diesen Bereichen geprüft und umgesetzt.

Es gab ein nationales Programm im Umfang von 1,3 Milliarden Franken für Lärmschutz-Erneuerungen bei den Bahnen. Dieses Programm läuft weiter; gegenwärtig ist eine Vorlage im Parlament. Innerhalb dieses Programms haben wir in der Schweiz jeden Bahnwaggon mit leiseren Bremssystemen aufgerüstet.

Auf den Strassen ist auch viel geschehen, besonders dank Lärmschutz-Wänden, in den letzten Jahren aber auch mit Geschwindigkeits-Reduktionen und leiseren Strassenbelägen.

Das Umweltschutzgesetz und die Lärmschutz-Verordnung sehen den Schutz der Bevölkerung vor schädlichem Lärm vor.

Die Regierung hat gewisse Grenzwerte für die Hauptarten von Lärm festgelegt.

swissinfo.ch: Wo kann man in Zukunft noch Verbesserungen machen?

U.W.: Wir können viel tun. Auf technischer Seite müssen wir mit den grössten Lärmquellen anfangen – Fahrzeuge, Strassen und Eisenbahnen. Autos können leiser gemacht werden, Reifen auch. Wir haben dazu eine Informationskampagne geführt.

Als Konsument kann man auch ein Elektrofahrzeug kaufen, statt auf Benzin zu setzen. Und wir haben vor, wirtschaftliche Anreize zu bieten, damit Produzenten leisere Produkte durchsetzen und die Konsumenten diese auch kaufen.

Im Bausektor kann man Aspekte bereits in der Planung berücksichtigen: Wie die Gebäude in einer Überbauung platziert, wie die Räume aufgeteilt, welche Materialien ausgewählt werden. All dies hat einen grossen Einfluss auf die Ausbreitung von Schallwellen. Zufahrts- und Durchgangsstrassen sollten ebenfalls in die Planung einbezogen werden. Da gibt es ein grosses Potenzial zur Verminderung von Lärmkonflikten.

swissinfo.ch: Ist die Lärmbelästigung das grösste Umweltproblem in der Schweiz?

U.W.: Lärm ist ein weitverbreitetes Umweltproblem. Wir schätzen, dass etwa 1,3 Millionen Menschen in der Schweiz zu viel Lärm ausgesetzt sind. Doch ob es damit das grösste Umweltproblem ist, ist schwierig zu sagen. In überbauten Gebieten ist es ein besonders weitverbreitetes Problem, doch ich möchte es nicht gegenüber anderen Risiken und Problemen aufwiegen.

swissinfo.ch: Welche Konsequenzen hat Lärm auf die Gesundheit?

U.W.: Es gibt wissenschaftliche Untersuchungen zu dieser Frage. Die Folgen zeigen sich besonders durch hohen Blutdruck, der zu Herzinfarkten führen kann.

Ein anderes Problemfeld sind Schlafstörungen. Die neuere Forschung hat herausgefunden, dass Kinder, die in lärmbetroffenen Gegenden leben, Verzögerungen in der kognitiven Entwicklung zeigen.

Wir haben mit den Methoden der Weltgesundheits-Organisation WHO auch ausgerechnet, wie viele behinderungsbereinigte Lebensjahre (disability adjusted life years) verloren gehen: In der Schweiz sind es pro Jahr 47’000 Lebensjahre, die wegen Lärmbelastung verloren gehen – gleich viele, wie wegen der Feinstoffbelastung der Luft.

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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