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Was Spanien zur Nr. 1 in Sachen Organdspenden macht

Internationaler Massstab: Rafael Matesanz, Leiter der Organspenden-Koordination Spaniens. ONT

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) möchte das spanische Modell bei Organspenden zum internationalen Standard erheben. Laut dem Direktor der Nationalen Organisation für Organtransplantation (ONT) beruht der Erfolg Spaniens auf Organisation.

Seit Jahren steht das iberische Land in Sachen Organspenden und -transplantationen weltweit an der Spitze. Mit einer Spenderrate von 35 pro Million Einwohner liegt es weit über dem Durchschnitt der Europäischen Union mit einer Rate von 19.

swissinfo.ch: 2010 hiess die WHO das spanische Modell zur Erreichung der Selbstversorgung gut. Wie erklären sie sich diesen Erfolg? 

Rafael Matesanz: Damit Menschen Organe spenden, müssen sie sensibilisiert sein. Dies allein reicht jedoch nicht. In den Spitälern braucht es auch gut ausgebildetes Fachpersonal, das Organtransplantationen koordinieren kann. Nötig ist zudem eine Organisation, welche die auftauchenden Probleme im Tagesablauf der Spitäler meistern kann.

Das spanische Modell wurde 1989 eingeführt. Nach nur drei Jahren stand Spanien an der Weltspitze, wo es sich noch immer befindet. Das sind spektakuläre Zahlen. Deshalb empfiehlt die WHO unser Modell zur Erhöhung der Organspenden. 

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Regionale Unterschiede bei Transplantations-Raten

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Das Schweizer Fernsehen besuchte das Lausanner Universitätsspital (CHUV), um mehr über das lateinische Organspende-Programm (PLDO) herauszufinden, das in 17 Spitälern der West- und der Südschweiz läuft.(rts.ch/swissinfo.ch)

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swissinfo.ch: Wo liegen die Stärken? 

R.M.: Nichts der Improvisation zu überlassen. Wenn wir etwas gelernt haben, dann der Umstand, dass es immer erst Fortschritte in der Organisation braucht, damit eine höhere Spenderrate erzielt werden kann. Das scheint einfach zu sein, doch vielen fällt es schwer, es einzusehen. Sie glauben, dass Organspenden vom Mass der Grosszügigkeit der Bevölkerung abhängen. Dem aber ist nicht so.

Der Anteil der Bevölkerung, der für oder gegen Spenden ist, steht in keinem Zusammenhang zu den tatsächlichen Spendern. Die Bevölkerung kann zu Organspenden bereit sein, doch wenn es kein funktionierendes System gibt, kommen diese nicht zustande. Das Schlüsselwort des spanischen Modells heisst Organisation. 

swissinfo.ch: Welche Länder haben in den vergangenen Jahren die grössten Fortschritte erzielt? 

R.M.: Der Grossteil der Länder hat das spanische Modell teilweise übernommen. Die grössten Fortschritte haben Portugal und Kroatien (Spendenrate 30) gemacht.

Lateinamerika ist eine jener Regionen mit den höchsten Zunahmen der Spenden. Einige Länder übertreffen bereits Europa. So ist z.B. in Argentinien die Rate mit 16 Spendern pro Million Einwohner höher als in Grossbritannien oder Deutschland. Der Vorteil des spanischen Modells besteht darin, dass es praktisch auf der ganzen Welt funktioniert. 

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Das Vertrauen in die Organspende stärken

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Mit der vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) initiierten und vom Nationalen Komitee für Organspenden (CNDO) betreuten Studie sollten die Gründe für die niedrige Spenderrate evaluiert werden. Eine Partnerschaft mit Facebook hat gezeigt, dass sich die Leute motivieren lassen, Spenderkarten zu bestellen. 2011 hat das BAG eine landesweite Kampagne durchgeführt, um die Spenderkarten bekannter zu machen.…

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swissinfo.ch: Spanien wendet das System der vermuteten Einwilligung an, im Gegensatz etwa zur Schweiz und Deutschland, wo die ausdrückliche Zustimmung mittels eines Ausweises verlangt wird. Erachten sie eine Anpassung der Gesetzgebung für zweckmässig? 

R.M.: Es gibt keinen einzigen Fall auf der Welt, wo die Zahl der Spender allein durch eine Gesetzesänderung zugenommen hat. Laut Gesetz ist theoretisch jeder Bürger Spender, sofern er zu Lebzeiten nicht explizit das Gegenteil ausgedrückt hat. In der Praxis wird jedoch immer die Familie des Verstorbenen gefragt. In Spanien lehnen zwischen 15 bis 20% der Angehörigen Transplantationen ab. Somit ist die Spende nicht automatisch.

Mein Ratschlag ist, das Gesetz zu ändern, sofern im Land ein allgemeiner Konsens herrscht. Das ist kein Zaubermittel zur Spendenerhöhung, denn viele Menschen können die Vorschrift als eine Art Zwang empfinden. So erreicht man manchmal genau das Gegenteil.

Und wenn kein angemessenes Organisationsmodell besteht, wird die Gesetzesänderung zu keiner Spendenerhöhung führen.

Spanien ist bei Organspenden und Transplantationen weltweit führend. Gegenwärtig beträgt die Spenderrate die Rekordhöhe von 35 pro Million Einwohner. In einigen autonomen Gemeinschaften wie Kastilien und León beträgt sie sogar 50.

Das spanische Modell wurde 1989 mit dem Ziel in Kraft gesetzt, das Problem des Organmangels für Transplantationen zu vermindern.

Es beruht auf einer Reihe von Massnahmen und Prinzipien, die sich auf unterschiedliche gesetzliche, wirtschaftliche, ethische, medizinische und politische Parameter abstützen.

Eckpfeiler des Systems:

ein Netz von Koordinatoren für Transplantationen, die als Schnittstelle für verschiedene staatliche Ebenen wirken;

ein gebietsübergreifender Rat von Verantwortlichen;

Spitalkoordinatoren mit medizinischer Ausbildung, die Teilzeit arbeiten und Erfahrung als Intensivmediziner haben;

kontinuierliche Prüfung der Fälle von Gehirntoten auf Intensivstationen;

ständige Weiterbildung für die Koordinatoren und das Gesundheitspersonal;

Gesetzgebung mit einer Definition des Gehirntods und den Bedingungen für eine Organentnahme.

Ausschluss von wirtschaftlichen Anreizen;

ein zentralisiertes Dienstleistungszentrum, das mit der Zuteilung der Organe, der Organisation des Transports, der Führung der Wartelisten und der Statistik beauftragt ist.

Dank diesem System kam Spanien von 14 Spendern 1989 auf die seit Jahren gleich bleibende Rate von 33-35 pro Million Einwohner.

swissinfo.ch: Beim Tod eines potentiellen Spenders wären die spanischen Gesundheitsbehörden befugt, die Organe zu entnehmen, ohne dass der Verstorbene den entsprechenden Ausweis unterschrieben hatte und sogar gegen den Willen der Hinterbliebenen. Doch in der Praxis wird der Wille der Angehörigen respektiert. 

R.M. Wir fragen die Familie stets: Kennt ihr den Willen des Verstorbenen? Dieser wird immer respektiert. Nie hat es in Spanien eine Organspende gegen den Willen der Familie gegeben. Ich glaube, dass ein einziger diesbezüglicher Skandal das ganze Programm für Organtransplantationen untergraben würde, da dieses hauptsächlich auf Vertrauen beruht.

swissinfo.ch: In der Schweiz widersetzt sich die Stiftung Swisstransplant dem System der automatischen Spende, während die Regierung die Einführung der vermuteten Einwilligung erwägt. 

R.M.: Das Beste ist, den mehrheitlichen Willen der Bevölkerung zu respektieren. Mit der Stellungnahme von Swisstransplant ist es offensichtlich, dass die Bevölkerung mit einem solchen Gesetz nicht gross einverstanden ist. Dasselbe geschah in Grossbritannien. Solche Polemiken fördern die Organspende überhaupt nicht.

Ich glaube, dass es in der Schweiz ein sehr bedeutsames Experiment gibt: Genf hat ein System von Koordinatoren inkraft gesetzt, das dem spanischen Modell sehr ähnlich ist. Die Spenderrate ist spürbar höher als in der übrigen Schweiz und insbesondere in Zürich, wo sie am niedrigsten ist.

Die Schweiz ist ein Land mit grossen Unterschieden, die eher auf unterschiedliche Organisation als auf den kulturellen Hintergrund zurückzuführen sind. Zur Spendenerhöhung sind eine Verbesserung der Organisation und ein landesweites Koordinationssystem unentbehrlich. 

Die Nationale Organisation für Transplantationen (ONT) ist die Zentralstelle, die das System der Organspenden und Transplantationen in Spanien koordiniert.

Sie arbeitet für die Entwicklung einer globalen Strategie mit der WHO mit Sitz in Genf zusammen.

Im Auftrag der WHO hat sie ein globales Register der Transplantationen erstellt, das sämtliche Spenden sowie Transplantationen von Organen, Geweben und Zellen auf der ganzen Welt erfasst.

Zudem setzt sie sich für den Kampf gegen Transplantations-Tourismus und den Handel mit Organen ein und arbeitet gemeinsam mit der WHO an der Verschärfung der Gesetzgebung und stärkeren Kontrollen.

swissinfo.ch: In Deutschland sank die Spenderrate nach einem Skandal wegen der Manipulation von Informationen über Transplantationspatienten. 

R.M.: In der Tat beendete Deutschland das Jahr mit weniger Spenden. Organe wurden für bestimmte Patienten reserviert und wahrscheinlich war dabei auch Geld im Spiel. Es wurde ungerecht vorgegangen und das ist sehr schlimm. Vertrauen ist ausschlaggebend, damit ein Modell funktioniert. In Spanien haben wir zum Glück ein transparentes System, dem die Leute vertrauen. Würde dieses Vertrauen verletzt, so würde die Zahl der Spenden einbrechen.

swissinfo.ch: Jährlich sterben in der Schweiz ca. 100 Menschen, weil ein Organ nicht rechtzeitig eintrifft. Letztes Jahr standen 1116 Patienten auf der Warteliste. Wie viele sind es in Spanien? 

R.M.: 5500 Patienten, von welchen 4500 auf eine Niere und die übrigen auf eine Leber, ein Herz, eine Lunge, etc. warten. Die Sterblichkeitsrate dieser Patienten beträgt zwischen 5 bis 6%. Unsere Bedürfnisse werden gut gedeckt und die Wartefristen sind kurz.

swissinfo.ch: Im Vergleich dazu sind die Raten in der Schweiz relativ hoch… 

R.M.: Das stimmt, doch das Konzept der Wartelisten ist nicht sehr wichtig. Wenn ein Chirurg weiss, dass er 50 Organe transplantieren kann, so wird er nicht 300 Patienten auf die Warteliste setzen, da ja 250 sterben würden. Die Wartelisten widerspiegeln die Notwendigkeiten bestimmter Therapien nur ungenügend.

Wenn wir doppelt so viele Organe zur Verfügung hätten, würde die Warteliste wahrscheinlich nicht kleiner, da mehr Patienten eingeschrieben würden. Das ist das grosse Drama der Organtransplantationen. Die Bedürfnisse übertreffen bei weitem die Möglichkeiten. Chirurgen orientieren sich an den Möglichkeiten und setzen nicht mehr Patienten auf die Liste, als sie operieren können.

swissinfo.ch: Welche Massnahmen empfehlen sie der Schweiz? 

R.M.: Das nicht ausschliesslich schweizerische Problem besteht hauptsächlich in der Atomisierung  des Gesundheitswesens. Wenn man in Ländern wie der Schweiz, Schweden oder Deutschland mit sehr dezentralisierten Systemen versucht, ein nationales Programm zu installieren, ist das kein Pappenstiel. Damit es funktioniert, muss das ganze Land in dieselbe Richtung gehen.

Im Falle der Schweiz müsste das Genfer Modell, das sich bewährt hat, auf die anderen Landesteile übertragen werden. So haben wir es in Spanien gemacht.

(Übertragung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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