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Schweizer Migrationspolitik als Rezept für Europa?

Fast so etwas wie normales Leben: Kinder spielen im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Im Falle einer Eskalation mit Türkeis Präsident Erdogan um die 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge in seinem Land würde die Lage im griechischen Nachbarland akut verschärft. Keystone / Petros Giannakouris

Die Kantone sind in der Schweizer Migrationspolitik wichtige Akteure. Sind sie doch nicht einfach Vollzugsorgane, sondern haben eigenen Handlungsspielraum. Das führt dazu, dass einige Kantone die Gesetze restriktiver auslegen als andere. Zu diesem Schluss kommen die Autoren einer Studie um Gianni D'Amato von der Universität Neuenburg. 

Europa könnte sich vom Schweizer System inspirieren lassen, sagt der Professor und Direktor des Schweizerischen Forums zur Erforschung von Migration und Bevölkerung im Interview.

Kleine Differenzen, die für betroffene Asylsuchende- denn um diese Menschen geht es hier – weitreichende Folgen haben können: Die Migrationspolitik in der Schweiz wird in jedem Kanton unterschiedlich umgesetzt. 

Das Schweizerische Forum für Migrations- und Bevölkerungsstudien (SFM), das an der Universität Neuenburg angesiedelt ist, hat die Gesetzesanwendungen in den Kantonen auf ihre Unterschiede geprüft. 

Die Forschenden untersuchten die Bereiche Integration, Schutz vor Diskriminierung, Asyl, Zulassung und Einbürgerung. Interview mit einem der Autoren der Studie, Professor Gianni D’Amato von der Universität Neuenburg.

swissinfo.ch: Welche Faktoren tragen dazu bei, dass ein Kanton die Migrationspolitik liberaler gestaltet, ein anderer restriktiver?

Gianni D’Amato: Die demografische Zusammensetzung spielt eine wichtige Rolle. Je urbaner der Kanton mit hohen Einwanderungsraten, binationalen Ehen oder Einbürgerungen, desto integrativer ist die Politik.

Es überrascht nicht, dass auch die politische Ausrichtung der verschiedenen politischen Gremien Einfluss hat. Je mehr Politikerinnen und Politiker links oder mitte-links stehen, desto liberaler ist die Anwendung des Gesetzes. Überraschenderweise haben wir festgestellt, dass die Migrationspolitik eines Kantons umgekehrt zur wirtschaftlichen Stärke verläuft: Je wirtschaftlich stärker, desto weniger integrativ ist die Migrationspolitik eines Kantons. 

Dies lässt sich damit erklären, dass Kantone mit höheren Quoten von Arbeitslosen oder Sozialhilfeempfängern bereits über Strukturen zur Förderung einer integrativen Politik verfügen. 

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Keinen direkten Einfluss auf die Migrationspolitik hat dagegen das sprachliche Umfeld, wie dies anfänglich zu erwarten gewesen wäre.

swissinfo.ch: Das bedeutet, dass  Asylsuchende, die eine Härtefallbewilligung (Aufenthaltsbewilligung aus humanitären Gründen) beantragen, in einem Kanton regularisiert werden können, im anderen nicht?

G.D’A.: Ja, in einigen Kantonen hat man bessere Chancen, sein Lebensprojekt zu verwirklichen als in anderen. Wenn es einen Wunsch nach Harmonisierung gibt, besteht durchaus Handlungsspielraum, der sich auf das Leben der Menschen auswirken kann. 

Man muss aber betonen, dass die Justiz eine Form der Kontrolle darstellt. Die kantonalen Verwaltungen interpretieren die Gesetze im Wissen, dass es Korrekturen von den Gerichten geben kann. Sie sind sich manchmal bewusst, dass sie mit ihrer Auslegung des Gesetzes an die Grenzen gehen, aber sie vertrauen auf das Korrektiv der Rechtsprechung.

swissinfo.ch: Auf europäischer Ebene kämpfen die Länder der EU darum, eine Einigung über die Verteilung der Migranten zu erzielen. Ist es so schwierig, die Migrationspraktiken zu harmonisieren?

G.D’A.: Die Schweizer Politik sieht vor, Migranten so schnell wie möglich in die Aufnahmezentren zu bringen. Jene, die ein Bleiberecht in der Schweiz erhalten, werden dann rasch in die Kantone verteilt. Eine Form der Übertragung dieser Politik auf die europäische Ebene wäre tatsächlich die Lösung. 

Aber im Moment funktioniert dies nicht. Einige Staaten haben nur eine geringe Bereitschaft, etwas zu tun, während viele andere gar nichts tun. Seit drei Jahren diskutieren die EU-Staaten über eine Einigung – bis jetzt erfolglos. Es gibt noch keine Lösung für eine gemeinsame Aufnahme-Politik.

swissinfo.ch: Können die Gespräche von Anfang Oktober einen Durchbruch bringen, die unter der Schirmherrschaft von Frankreich und Deutschland geführt wurden?

G.D’A.: Ich glaube nicht, denn die Situation ist blockiert: Es gibt keine gemeinsame Auffassung. Jetzt bleibt abzuwarten, ob es einer Gruppe von einigen wenigen Staaten gelingt, eine Einigung zu erzielen. Sie könnte dann die anderen beeinflussen.

swissinfo.ch: Wird die von der Türkei gestartete kriegerische Offensive gegen eine kurdische Miliz im Nordosten Syriens zu einer neuen Migrationskrise in Europa führen?

G.D’A.: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte gedroht, die 3,6 Millionen syrischen Flüchtlinge in seinem Land nach Europa zu verfrachten. 

Würde er diese Drohung wahr machen, könnte dies in der Tat zu einer schwierigen Situation führen. Zunächst in Griechenland und dann auf der Balkanroute. Viel wird von den diplomatischen und wirtschaftlichen Interventionen der europäischen Länder abhängen.

swissinfo.ch: Sollte sich die Schweiz wieder auf einen Anstieg der Asylgesuche vorbereiten?

G.D’A.: Die Migrationskrise von 2015 traf den Bund in geringerem Masse. In der Schweiz nehmen die Asylanträge dann zu, wenn die Flüchtlinge aus Italien über die Grenze kommen. Andere Routen wie die Balkanroute wirken sich weniger auf die Schweiz aus. Aber nichts ist ausgeschlossen.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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