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Mit Schmiergeld zur Lehrstelle

Im Kanton Bern am Pranger: Schmiergeldzahlungen für eine Lehrstelle. swissinfo.ch

Neues Phänomen gegen Lehrstellenmangel: Eltern "kaufen" ihren Kindern buchstäblich einen Ausbildungs-Platz. Eine Plakat-Aktion macht darauf aufmerksam.

Die Folgen sind verschärfte soziale Ungerechtigkeiten im Bildungssektor, wie Vertreter von Arbeitnehmer-Organisationen warnen.

Am Lehrlingsbarometer lässt sich der Zustand auf dem Schweizer Lehrstellenmarkt ablesen. Von den 133’500 Jugendlichen, die letztes Jahr vor dem Eintritt ins Berufsleben standen, hatten am Stichtag des 31. August 63’000 eine Lehrstelle (47%).

Während sich knapp 59’000 Jugendliche für eine schulische oder andere Zwischenlösung entschieden, standen rund 8000 vor einem Start ins Nichts. Peter Sigerist, Sekretär des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes (SGB) und Leiter der SGB-Jugendkommission, geht von einem Mangel von “sicher 10’000 Lehrstellen” im letzten Herbst aus.

Schere tut sich auf

Geburtenstarke Jahrgänge, zu wenig Lehrstellen, da greifen verzweifelte Eltern auch schon mal in den Geldbeutel, um Sohn oder Tochter einen der begehrten Ausbildungsplatz zu sichern.

Angeprangert wird dieses Phänomen gegenwärtig in einer Plakataktion im Kanton Bern: “Lehrstellenmangel: Immer mehr Eltern bezahlen Schmiergelder an die Unternehmer”, steht in roten Balken auf gelbem Hintergrund. Die Urheber der Aktion wollen sich erst nächste Woche zu erkennen geben. Der SGB sei es nicht, wie Sigerist gegenüber swissinfo sagt.

Mehrfach schädlich

Beim Kaufmännischen Verband Schweiz (KV) ist man erfreut über diese Art von Öffentlichkeit. “Ich bin froh, wenn es eine Demaskierungs-Kampagne gibt, die zeigt, dass jemand, der das macht, sich unmoralisch und letztlich volkswirtschaftlich unsinnig verhält”, sagt Ralf Margreiter, Ressortleiter Jugend beim KV, der grössten schweizerischen Berufsorganisation der Angestellten in Büro und Detailhandel.

Das Phänomen sei weiter verbreitet, als man annehme. Dabei handle es sich vermutlich selten um offenkundiges Lehrgeld wie im Mittelalter. Es gehe eher um Deals wie “Ich vermittle dir einen Auftrag, du gibst meinem Kind eine Lehrstelle”, so der KV-Vertreter gegenüber swissinfo.

Akzentuierung sozialer Ungerechtigkeit

Auch Sigerist bestätigt das Phänomen. “Es ist wie bei der Schwarzarbeit: Es gibt keine Statistiken, aber man weiss, dass es sie gibt.”

Für Margreiter stehen aber nicht in erster Linie Eltern am Pranger: “Wir stehen auf dem Lehrstellenmarkt einem eklatanten Versagen gegenüber.” Dennoch müssten sich Eltern fragen, welchen Domino-Stein sie mit dem “Lehrgeld” umstiessen, denn es gebe fast immer jemand, der noch mehr bezahlen könne.

Sigerist sieht vor allem die Akzentuierung sozialer Ungerechtigkeit. “Früher konnten Eltern Kinder in eine Lehre mit einem anständigen Lehrlingslohn schicken. Heute entsteht dadurch eine zusätzliche Belastung.” Angesichts stagnierender Löhne und steigender Krankenkassen-Prämien eine sehr unsoziale Entwicklung.

Wie verhalten sich Lehrbetriebe?

Entscheidend sei die Rolle der Betriebe: “Ist der Lehrmeister ‘bestechlich’ oder orientiert er sich an der Qualität, also dem besten Lehrling, den er finden kann?”, fragt Ralf Margreiter.

Er erwähnt ein weiteres Problem: Schmiergeldzahlungen machten den Lehrstellenmarkt noch ungerechter, weil die Zugangsschwelle gerade für Jugendliche aus sozial schwächeren Schichten und/oder mit ausländischen Eltern noch höher werde. “Ihnen fehlen oft Beziehungsnetz, Bildungsgewohnheit und Geld.”

Appelle

Sigerist appelliert an alle Beteiligten, also Bund, Kantone und vor allem die Wirtschaft, genügend Lehrstellen und andere berufsbildende Angebote zu schaffen, “dann wird das Phänomen verschwinden”.

Margreiter hofft auf das Festhalten am Ehrenkodex für Lehrbetriebe: “Es muss bewusst bleiben, für was es eine Berufslehre gibt: Für die bestmögliche Ausbildung des beruflichen Nachwuchses und damit für die Sicherung der wirtschaftlichen Zukunft der Schweiz.”

Rechtliche Mittel dagegen seien schwerlich anzuwenden, da es sich bei den Schmiergeldzahlungen um eine Grauzone rund um einen freien Markt handle. Margreiter: “Es ist am ehesten Sache der Berufsverbände, hier intensiv zu informieren und mit Nachdruck zu erklären: Das ist nicht erwünscht.”

swissinfo und Agenturen

Um von einem spielenden Lehrstellenmarkt zu sprechen, braucht es ein Lehrstellen-Überangebot von einem Achtel (gut 12%).

Auf dem Schweizer Lehrstellenmarkt fehlten im letzten Herbst gemäss dem Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) rund 10’000 Ausbildungsplätze.

Wirtschaftsminister Joseph Deiss sicherte zu, dass der Bund Projekte zur Lehrstellen-Förderung zu 100% unterstützt (bisher 60%). Die Schweizer Regierung lehnte dies jedoch ab.

Die Gewerkschaften verlangen die Ernennung eines Delegierten für Berufsbildung.

Dieser soll initiieren, dass Betriebe pro neu geschaffener Lehrstelle mit 10’000 Franken subventioniert werden.

Ende August 2005 standen 133’500 Jugendliche in der Schweiz vor der Berufswahl.
63’000 oder 47% begannen eine Lehre.
25% blieben im Schulsystem.
19% wählten eine andere Zwischenlösung.
Davon hatten 7% eine Arbeitsstelle, 3% machten einen Sprachaufenthalt und 5% ein Praktikum.
8% hatten bis zum 31. August noch keine Beschäftigung gefunden.

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