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Münchner Urteil widerlegt Schweizer “Kuscheljustiz”

Vertreter des Münchner Gerichts stehen Red und Antwort zu den Urteilen gegen die Schweizer Schläger. Keystone

Die jugendlichen Gewalttäter aus der Schweiz, die in München zu teils hohen Gefängnisstrafen verurteilt worden sind, kämen in der Schweiz nicht besser weg, sagt Josef Sachs, Aargauer Gerichtspsychiater und Experte für Jugendgewalt.

Hätten die jugendlichen Schläger ihren Gewaltexzess nicht in München, sondern in der Schweiz begangen, wären sie nicht milder bestraft worden. Dies sagt Josef Sachs im Gespräch mit swissinfo.ch.

Von den sieben Jahren Gefängnis für den Haupttäter müsse dieser in Deutschland – gute Führung vorausgesetzt – rund vier Jahre absitzen. Genau so lange dauert laut Sachs der Massnahmenvollzug für jugendliche Gewalttäter in der Schweiz, würden sie hier eine Tat von ähnlichem Ausmass begehen.

Der Aargauer Gerichtspsychiater entkräftet damit Behauptungen von rechter Seite, jugendliche Gewalttäter profitierten in der Schweiz von einer “Kuscheljustiz”.

swissinfo.ch: Sieben Jahre Gefängnis für den Hauptangeklagten, knapp fünf Jahre respektive knapp drei Jahre für die beiden Mittäter. Wie beurteilen Sie die Entscheide?

Josef Sachs: Das Strafmass kann ich nicht beurteilen, da ich die Beteiligungen der einzelnen Jugendlichen an der Straftat nicht kenne.

Es scheint mir aber sehr interessant, dass die Gefängnisstrafe für den Haupttäter voraussichtlich gleich lang sein wird, wie die Zeit, die er in der Schweiz im Jugendmassnahme-Vollzug abzusitzen hätte.

Von den sieben Jahren wird er wahrscheinlich zwei Drittel absitzen müssen, also etwas mehr als vier Jahre. Eine Jugendmassnahme in der Schweiz dauert ebenfalls ungefähr vier Jahre.

Die Dauer der Gefängnisstrafe in Deutschland entspricht also in etwa der Dauer der Massnahmen in der Schweiz.
Das ist interessant im Zusammenhang mit der Diskussion um das Strafmass im Jugendstrafrecht in Deutschland und der Schweiz.

swissinfo.ch: Das Münchner Urteil widerlegt also Behauptungen rechtskonservativer Kreise in der Schweiz, Jugendrichter betrieben hier eine “Kuscheljustiz”?

J.S.: In diesem Falle sehe ich solche Behauptungen nicht bestätigt. Zwar dauert eine Freiheitsstrafe für Jugendliche in der Schweiz maximal vier Jahre. Bei Vorfällen wie demjenigen von München müssten die Jugendlichen aber mindestens vier Jahre im Massnahmenvollzug bleiben. Und dieser Massnahmenvollzug ist mindestens so hart wie eine Gefängnisstrafe in Deutschland.

swissinfo.ch: Die Täter schwiegen sehr lange, entschieden sich erst sehr spät zum Reden, entschuldigten sich dann und vereinbarten Schmerzensgeldzahlungen. Hat dies beim Strafmass eine Rolle gespielt?

J.S.: Die Tatsache, dass sie am Schluss noch geredet haben, hat sicher mildernd gewirkt. Durch die späte Aussagefreudigkeit hielt sich diese Milderung jedoch in Grenzen. Denn die gegen den Haupttäter ausgesprochene Strafe liegt nur wenig unter dem Antrag der Staatsanwaltschaft, die neun Jahre Gefängnis verlangt hatte.

swissinfo.ch: Was führt junge Menschen dazu, Gewalt nicht etwa gegen Sachen anzuwenden, wie bei einem Nachtbubenstreich, sondern gegen Menschen?

J.S.: Dazu braucht es zwei Dinge: Einerseits eine gewisse Disposition in der Persönlichkeit von Jugendlichen. Diese äussert sich beispielsweise in früheren Straftaten.

Andererseits braucht es eine Gruppendynamik, wie sie im vorliegenden Fall eine grosse Rolle spielte.

swissinfo.ch: Gibt es Möglichkeiten zu einer wirksamen Früherkennung von Gewaltpotenzial bei Jugendlichen?

J.S.: Ja. Wichtigstes Indiz ist eine Gewaltbereitschaft oder eine Tendenz zu schweren Regelverletzungen schon in einem sehr frühen Alter, also bereits im Primarschul- oder im Kindergartenalter.

swissinfo.ch: Welche Massnahmen drängen sich auf, wenn ein Kind Auffälligkeiten Richtung Gewaltanwendung zeigt?

J.S.: Es muss eine sehr frühe Reaktion erfolgen, in Form einer genauen Abklärung bei den Kindern und einer Beratung der Eltern. Allenfalls ist eine Therapie für die Kinder notwendig.

Werden gewaltbereite Kinder früh erfasst und erfolgt die notwendige Intervention, können ungünstige Entwicklungen in vielen Fällen verhindert werden.

swissinfo.ch: Die Tat geschah auf einer Klassenfahrt. Was raten Sie Lehrerinnen und Lehrern, die mit ihren Schülern eine Reise machen?

J.S.: Lehrer und Lehrerinnen sollen nicht überreagieren, indem sie etwa auf Klassenreisen verzichten oder im Vorfeld übertriebene Abklärungen treffen. Vorfälle wie derjenige von München sind sehr selten und können kaum mit letzter Sicherheit verhindert werden.

Aber ich rate zu einer sehr sorgfältigen Vorbereitung. Die Tage, aber ebenso die Abende müssen gut strukturiert werden. Gerade Schulabgänger, die kurz vor der Entlassung aus der Schule stehen, wollen etwas erleben. Da ist das Risiko relativ gross, dass sie Straftaten begehen können. Abende mit freiem Ausgang können deshalb problematisch sein.

Deshalb würde ich ein straffes Programm ohne allzu viele Freiräume vorschlagen. Lehrerinnen und Lehrer müssen nicht dauernd selber bei den Schülern sein, es kann auch eine Begleitperson sein.

Die drei damaligen Schüler der Weiterbildungs- und
Berufswahlschule Küsnacht (Kanton Zürich) befanden sich Ende Juni 2009 auf einer Klassenreise in München.

Am Abend des 30. Juni attackierten sie in der
Innenstadt innert Minuten wahllos fünf Menschen.

Mit Schlägen und Tritten verletzten sie die fünf Personen teils lebensgefährlich.

Die drei heute 16-jährigen Schläger wurden unmittelbar nach den Taten festgenommen und sassen seit dem 1. Juli 2009 in Untersuchungshaft, also seit rund 17 Monaten.

Der Prozess vor der
Jugendkammer des Landgerichts München hatte am 8. März 2010 begonnen.

Dem 2007 revidierten Jugendstrafrecht unterliegen Personen, die zwischen dem 10. und dem 18. Altersjahr eine Straftat begehen.

Es sieht Schutzmassnahmen und Strafen vor.

Gestraft wird im so genannten Massnahmenvollzug mit Verweisen, persönlichen Leistungen, Bussen und Freiheitsentzug bis maximal vier Jahre.

Der Massnahmenvollzug dauert maximal bis zum 22. Altersjahr.

Jugendliche müssen während des Massnahmenvollzugs eine Ausbildung absolvieren.

Der 61-Jährige ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und leitet die forensische Abteilung an der Psychiatrischen Klinik Königsfelden.

Als Gerichtspsychiater des Kantons Aargau hat er eine langjährige Erfahrung mit der Beurteilung und Therapie von jugendlichen Gewalttätern.

Sachs ist auch Autor mehrerer Bücher zum Thema Jugendgewalt.

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