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Widersprüchliche Botschaften der Schweiz im Kampf gegen Armut

Die neuen UNO-Entwicklungsziele betreffen die Entwicklungsländer, aber auch die Industrieländer. Keystone

Der Schweizer Beitrag zu den UNO-Zielen zur Reduktion der globalen Armut beruht auf einer Kombination von direkter Demokratie, grosszügigen Geldern und Eigeninteressen. Kritiker erkennen darin widersprüchliche Signale.

In den vergangenen drei Jahren hat die Öffentlichkeit mitgeholfen, den Schweizer Beitrag für die nächste Runde der Ziele nachhaltiger Entwicklung (Sustainable Development Goals, SDG) der UNO zu definieren. Die SDG lösen die Millenniums-Entwicklungsziele ab, die zwischen 2000 und 2015 verfolgt worden sind. Sie sollen bis 2030 Gültigkeit haben.

Ein Hearing in Bern mit mehr als 100 Teilnehmern markierte laut Michael Gerber, dem Sonderbeauftragten für Globale Nachhaltige Entwicklung beim Eidgenössischen Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA, das “offizielle Ende eines dreijährigen Prozess” zur Ausarbeitung der Schweizer Position.

Wichtige Ziele für die Schweiz sind der Zugang zu sauberem Wasser, Gesundheit, die Rechtsstaatlichkeit, nachhaltiger Frieden und Gleichberechtigung der Geschlechter. Grossen Wert legt die Schweiz auch auf Migration und Entwicklung, die Minimierung der Risiken für Naturkatastrophen und Nachhaltigkeit bei Konsum und Produktion.

“Bei jedem Anlass, den wir organisiert haben, kamen mehr Menschen und brachten ihre Positionen mit ein. Wir versuchten, all die Ideen zusammen zu bringen”, sagte Gerber gegenüber swissinfo.ch. “Das zeigt, dass die Leute sehr engagiert sind.”

Schweizer Bedenken

“Wir haben eine ambitionierte Agenda und wir müssen unser Bestes geben, um die Ziele zu erreichen”, sagte Gerber. “Wir werden kaum in die Position kommen, dass wir sagen können, es gebe keinen Krieg und keine Armut mehr auf der Welt, aber wir müssen so weit gehen, wie wir können.”

Es geht nicht lediglich darum, sich Geldund die Entwicklungsländer zu unterstützen. Die Schweiz muss sich zudem anstrengen, die SGD zu im Inland selber vollumfänglich zu erreichen. “Alle Ziele gelten auch für die Schweiz. In vielen Punkten stehen wir gut da, aber bezüglich der Armut im Land haben wir noch einiges zu tun”, so Gerber weiter.

Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt und hat eines der höchsten pro Kopf-Einkommen. Dennoch leben 7,7% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. Laut dem Bundesamt für Statistik liegt die Armutsgrenze im Land bei 2200 Franken Einkommen monatlich für Einzelpersonen und bei 4050 Franken für ein Paar mit zwei Kindern. Verglichen mit andern europäischen Ländern erscheinen diese Zahlen relativ hoch, aber in der Schweiz sind die Wohnungsmieten höher, die Krankenkasse ist obligatorisch und auch andere Kosten sind höher.

Politischer Wille ist zentral

Zahlreiche Nichtregierungsorganisationen zeigen sich skeptisch in der Frage, ob die Schweiz in der Lage sein werde, die neuen Ziele in der vorgesehenen Zeit umzusetzen. Ihre Zweifel betreffen namentlich die Senkung der Abfallmengen und die Verkleinerung der finanziellen Kluft zwischen reichen und armen Menschen. Sie monieren zudem, die Sparpläne der Regierung seien ein Hindernis für das Erreichen der Ziele.

Alliance Sud beispielsweise begrüsst die Agenda 2030 grundsätzlich, bezeichnet sie aber als von zahlreichen Widersprüchen geprägten, mittelmässigen Kompromiss. Offen sei auch die Frage, wieweit Regierungen und die Privatwirtschaft zur Verantwortung gezogen werden können.”Der wichtigste Faktor zur Erreichung der Ziele ist der politische Wille”, sagte Manuel Sager, Chef der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit DEZA, am Hearing in Bern.

UNO-Ziele

Die acht Millenniums-Entwicklungsziele hätten 1 Milliarde Menschen von extremer Armut befreit, sagt kürzlich UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon.

Der UNO-Gipfel verabschiedete Ende September in New York das endgültige Dokument zu der zweiten Runde der UNO-Ziele bis 2030. Die jährlichen Kosten für die Erreichung derZiele werden auf 3.5 bis 5 Trillionen Dollar geschätzt.

Ban sagte, “die Ziele verpflichten uns alle zu verantwortlichen Weltbürger, zur Fürsorge für die weniger Bemittelten und für das Ökosystem, von dem alles Leben abhängt”.

Vor der 193. UNO-Vollversammlung, die auf den Gipfel folgte, sagte die Schweizer Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, die ehrgeizige Agenda 2030 zeige die Fähigkeit der UNO, “sich ständig selbst zu erneuern”.

Gefahr der Verwässerung

Rolf Kappel, emeritierter Professor an der Universität Zürich und spezialisiert auf Entwicklungsfragen, kritisiert, die Ziele seien zu breit definiert. “Die SDG enthalten zahlreiche schwammige Ziele, für die zu wenig ausreichende Indikatoren und Daten verfügbar sind.”, schrieb Kappel kürzlich in einem Newsletter. “Das Monitoring wird mehr auf Meinungen basieren als auf Nachweisen. Das birgt das Risiko, dass die SDG weniger von den Entscheidungsträgern ernst genommen und dass entscheidende Massnahmen verhindert werden.”

Die Welt habe sich seit den Milleniumsziele verändert und die neuen Ziele würden die Entwicklungsländer und Organisationen, welche Berichte erstellen und Konferenzen organisieren. Erfreuen. Aber “der enorme Spielraum und die Bandbreite der neuen Agenda kann die globalen Anstrengungen zur Armutsreduktion verwässern und die Armen zu Verlierern machen. Das darf nicht passieren”, warnt Kappel.

Kosten und Nutzen

Die Schweizer Regierung plant, die UNO-Ziele als Teil der Strategie zur nachhaltigen Entwicklung 2016 bis 2019 und innerhalb ihrer Strategie zur internationalen Zusammenarbeit zu realisieren. Der Entscheid darüber, ob die Schweiz – wie von der UNO seit 1970 angestrebt – 0.7% ihres Bruttoneinkommens für die Entwicklungshilfe einsetzt, liegt beim Parlament. Mit dem Rechtsrutsch bei den nationalen Parlamentswahlen von Mitte Oktober sind die 0.7% jedenfalls alles andere als sicher.

Pierrette Rey, Sprecherin beim WWF Schweiz, betonte am Hearing, dass ihr der Kampf gegen den Klimawandel und die Biodiversität besonders am Herzen liege. “Die Schweiz ist in vielen Bereichen kein Vorbild. Wenn alle denselben Lebensstil pflegten wie ein durchschnittlicher Schweiz Bürger, dann brauchten wir mindestens drei Planeten und das ist nicht nachhaltig.”

Ignacio Packer, der Generalsekretär des Kinderhilfswerkes Terre des Hommes, erinnerte in Bern daran, dass auch die Unterstützung der Migration in den neuen UNO-Zielen enthalten sei.

Wahlerfolg der Rechten

Migration war eines der Kernthemen im Wahlkampf für die jüngsten Parlamentswahlen, bei denen die politische Rechte zulegen konnte. Die meisten Politbeobachter führten diesen Wahlerfolg auf den starken Anstieg syrischer Flüchtlinge in Europa zurück. Dies, obschon bisher gar nicht viele Syrer in die Schweiz geflüchtet sind.

“Es ist ein Durcheinander. Ich bin überzeugt, dass wir wirklich versuchen wollen, die Ungleichheiten zu beseitigen und ich spüre viel guten Willen dazu. Doch das politische System produziert eine gewisse Inkohärenz”, sagte Packer mit Blick auf die Wahlen und die asylpolitischen Abstimmungen der letzten Zeit. “Es kommt mir vor, wie wenn der linke Arm nicht weiss, was der rechte zu tun gedenkt.”

(Übertragung aus dem Englischen: Andreas Keiser)

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