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Viel Hoffnung, wenig Chancen auf einen Sitz in Bern

Für die Wahlen am 20. Oktober haben sich auch Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer beworben. Wie stehen die Chancen? 

2015 hatte die Hoffnung einen Namen: Tim Guldimann, Ex-Botschafter und erster Auslandschweizer, konnte im Nationalrat tatsächlich einen Sitz erobern. Exakt 167 Jahre hatten die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer seit der Gründung des Bundesstaates 1848 warten müssen, bis erstmals einer der ihren in den Nationalrat gewählt wurde. 

Im Winter 2018, knapp drei Jahre später, trat Guldimann bereits wieder zurückExterner Link. Die schillernde und bekannte Figur sagte, er habe gemerkt, dass man nicht an einem Ort leben und am anderen Ort politisieren kann. Nationalrat in Bern sein, aber nicht in der Schweiz leben, so stellte er es dar, sei ein Ding der Unmöglichkeit. 

Ehemalige Nationalratskollegen sagen heute, mit diesem Argument hätte er der Sache der Fünften Schweiz einen Bärendienst erwiesen, denn wie sollen Kandidierende künftig glaubhaft machen, dass sie dieser Belastung gewachsen sind: Im Ausland leben, in der Schweiz politisieren, wenn das doch schon von Berlin aus nicht geklappt hat? 

Kandidaturen massiv zugenommen

Und doch bewerben sich auch dieses Jahr wieder Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer für einen Sitz in Bern. Obwohl die Wählerinnen und Wähler ihre Gesichter kaum kennen. Und obwohl sie in manchen Fällen noch viel längere Distanzen zurückzulegen haben als Bern – Berlin.


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Wie viele sich zahlenmässig für ein Amt bewerben, ist noch nicht bekannt. Die Auslandschweizer-Organisation (ASO) sagte auf Anfrage von swissinfo.ch, konkrete Zahlen würden per Ende August kommuniziert. Ein Blick zurück in die Statistiken verrät, dass das Interesse der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer an einem Sitz in Bern seit den 1990er-Jahren massiv zugenommen hat.

Hatten sich 1995 noch drei Kandidierende um das Amt beworben, waren es 2011 bereits deren 84. 2015 waren es 59 – und einer von ihnen war prominent genug, um gewählt zu werden: Tim Guldimann ergatterte sich einen Platz in Bern.

180’000 Wählerinnen und Wähler

Die Fünfte Schweiz, wie die Gruppe der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer auch genannt wird, umfasst mittlerweile gegen 760’000Externer Link Schweizerinnen und Schweizer. 180’000 von ihnen wählen oder stimmen regelmässig ab. Das entspricht in etwa der Anzahl Stimmberechtigten des Kantons Thurgau.

Keine kleine Zahl an Menschen, die am politischen Leben der Schweiz teilnehmen wollen. Und sie verlangen auch Mitsprache bei Themen, die sie direkt oder indirekt betreffen, wie E-Voting, AHV oder Krankenversicherung.

Am ASO-Kongress in Montreux von Mitte August waren die amtierenden und ehemaligen Parlamentarierinnen und Parlamentarier entsprechend bemüht, Offenheit gegenüber kandidierenden Auslandschweizern zu signalisieren.

Unterstützung hängt von Partei ab

Doch die Realität im Parlament sieht ein wenig anders aus. Nicht alle Parteien sympathisieren gleichermassen mit den Anliegen der Fünften Schweiz. Die Sozialdemokratische Partei (SP) setzt sich gemäss einer Auswertung von swissinfo.ch am stärksten für die Anliegen der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer ein, die Schweizerische Volkspartei (SVP) am wenigsten.

Die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP), Grüne und Grünliberale sowie die Freisinnig-Demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) liegen dazwischen.

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So drängen einige Kandidatinnen und Kandidaten aus dem Ausland auch nach Bern, weil sie sich von den Ansässigen nicht gehört oder vertreten fühlen, wie beispielsweise die Kandidaten Franz Muheim (GLP) und Nicolas Szita (SVP).

Beide sind in Grossbritannien wohnhaft, haben dort Familie und ihre Wurzeln geschlagen. Beide gehen derzeit davon aus, dass sie Grossbritannien trotz Brexit nicht verlassen werden, möchten sich aber aus dem Ausland heraus politisch für die Schweiz engagieren.

Trotz Digitalisierung bleibt der politische Prozess in der Schweiz jedoch noch immer physisch – mit die grösste Hürde in den Augen der Kandidaten aus dem Ausland. Nach Gesetz sind die Ratsmitglieder nämlich dazu verpflichtet, an den Sitzungen der Räte und Kommissionen persönlich und physisch teilzunehmen. Sich per Skype in eine Parlamentsdebatte oder eine Kommissionssitzung einzuklinken, ist nicht zulässig.

Streit um Wahlrechte

Auch die Frage, ob ein Einsitz der Fünften Schweiz in Bundesbern überhaupt legitim sei, ist innenpolitisch noch nicht fertig diskutiert. Auf der einen Seite stehen Bemühungen der Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen, die Präsenz der Fünften Schweiz im Parlament institutionell abzusichern.

Vorderhand bleibt es dabei aber bei theoretischen Überlegungen. Derzeit prüft eine Arbeitsgruppe des Auslandschweizerrats, wie die Schweiz ihren Auslandbürgerinnen und -bürgern eine garantierte Anzahl Parlamentssitze reservieren könnte – etwa so, wie dies Frankreich macht. Bisherige Erkenntnis: Der Weg dahin wird kompliziert und steinig.

Auf der anderen Seite zielen einzelne Parlamentarier eher in die entgegengesetzte Richtung. Sie wollen das Stimm- und Wahlrecht der Auslandschweizerinnen und -schweizer einschränken. Doppelbürgerschaften sehen sie nicht mit einer aktiven Teilhabe an der Schweizer Politik vereinbar.

Fazit: Die Chancen auf eine Vertretung der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer im nächsten Parlament sind intakt, aber minim.

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