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Rückhalt für Wehrpflicht in Europa bröckelt

Die Parade von Armeerekruten am Nationalfeiertag in Wien. Reuters

Am Wochenende stimmt Österreich über die Wehrpflicht ab. Seit dem Ende des Kalten Krieges sorgt das Thema auch in andern europäischen Ländern für Gesprächsstoff. In der Schweiz dürfte es noch in diesem Jahr zu einer Volksabstimmung darüber kommen.

Im 21. Jahrhundert haben 17 europäische Länder die Wehrpflicht abgeschafft oder sistiert. Nur 6 Mitgliedstaaten der Europäischen Union kennen noch das Prinzip der obligatorischen Dienstpflicht. Rund zwei Drittel der insgesamt 43 Staaten mit Streitkräften verfügen dagegen über eine professionelle Armee.

Was hat in den letzten zwanzig Jahren zur Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht geführt, und sind die Gründe überall die gleichen?

“Die Debatten in den einzelnen Ländern werden von spezifischen Eigenheiten geprägt”, sagt Tibor Szvircsev Tresch, Militärsoziologe an der ETH Zürich. Das Ende des Kalten Krieges, mit dem der Westen von der Bedrohung des von der Sowjetunion angeführten Ostblocks befreit wurde, habe zweifellos einen Einfluss auf die Rolle der Streitkräfte gehabt.

In der Folge war die Hauptaufgabe der meisten Armeen nicht mehr die Verteidigung des nationalen Territoriums. Stattdessen konzentrierten sie sich – als Teil der Vereinten Nationen, der Nato oder der Sicherheitsstruktur der EU – auf internationale Missionen und auf ihre unterstützende Rolle bei der Katastrophenhilfe oder bei gesellschaftlichen Aufgaben.

Dazu kam eine Entwicklung zu einer verkürzten Wehrdienstdauer und eine wachsende Zahl männlicher Einwohner, die aus dem Militärdienst austraten, sagt Szvircsev Tresch.

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Nachbarn

Frankreich, das westliche Nachbarland der Schweiz, war im 21. Jahrhundert eines der ersten Länder, das die Wehrpflicht offiziell sistierte. Italien folgte 2005, Deutschland stellte 2011 auf eine Berufsarmee um.

Die Debatte in Deutschland war geprägt von der Sorge um einen Personalmangel in der Pflegebranche, weil viele Männer den alternativen Zivildienst – Hilfeleistungen in den Wohnungen von Betagten – gegenüber dem gewöhnlichen Militärdienst bevorzugten.

Weitere Gründe für einen Wechsel waren geringere Kosten sowie die zunehmend ungleiche Behandlung der jungen Bürger, zumal nur rund jeder dritte Deutsche die militärische Option wählte.

Anders als die Schweiz sind alle drei erwähnten Nachbarländer der Schweiz Mitglieder des Nato-Bündnisses und der EU.

Österreich, das im Osten an die Schweiz grenzt, könnte als nächster Staat die Wehrpflicht abschaffen.

Laut Beobachtern haben sich die politischen Parteien im Vorfeld des unverbindlichen Referendums vom Sonntag der Debatte bemächtigt, zumal Österreich in diesem Jahr Parlamentswahlen durchführt.

Trotzdem scheinen weder der neutrale Status als EU-Mitgliedstaat noch die Kosten für die Regierungspartei und die Opposition ein wichtiges Argument zu sein.

Dienstpflicht bedeutet für die Bürger, dass sie obligatorisch einen Dienst zugunsten der Nation leisten. Meistens handelt es sich um militärische Aufgaben, aber auch um alternative zivile Dienstleistungen.

Die Gegner argumentieren, dass die Dienstpflicht die Rechte des Individuums verletze und das System zu kostspielig sei.

Das Modell der nationalen Dienstpflicht entstand während der Französischen Revolution in den 1790er-Jahren.

Mehr als die Hälfte der europäischen Länder haben die Dienstpflicht aufgehoben oder sistiert.

Die Schweiz gehört zu jenen Ländern, die trotz Opposition der Linken an der Dienstpflicht festhalten.

Neutralität, republikanisches Ideal

Schweden, ein anderer neutraler Staat, hat seine Wehrpflicht 2010 aufgehoben. Die Hauptaufgaben der Streitkräfte werden seither auf internationale Aufgaben gelegt.

Das benachbarte Finnland gehört zu einer Handvoll neutraler europäischer Staaten – darunter auch die Schweiz – die ihre allgemeine Wehrpflicht und die traditionelle Rolle der Armee mit Stolz hochhalten, zum Teil auch aus historischen Gründen.

Irland, ein weiterer neutraler Staat, hat die Wehrpflicht nie eingeführt. Das Thema hatte während des Ersten Weltkriegs eine grosse Krise mit Grossbritannien ausgelöst.

Ähnliche Verhaltensmuster liessen sich in Ländern mit Systemen ausmachen, die auf republikanischen Werten basierten, darunter die nördlichen Länder Deutschland, Österreich und die Schweiz, sagt Szvircsev Tresch.

“Diese Länder hielten länger an der Wehrpflicht fest, weil sie ein republikanisches Staatsverständnis haben, d.h. ein auf Gemeinsinn basiertes Modell.”

Das konkurrierende Modell wurzelt in einer libertären politischen Philosophie, die im Wesentlichen die individuelle Freiheit zum wichtigsten politischen Wert erklärt und diese über die Interessen der Allgemeinheit stellt.

Diensttaugliche männliche Bürger ab dem 19. Lebensjahr sind Militärdienst pflichtig. Für Frauen ist der Militärdienst freiwillig.

Die Entlassung erfolgt nach der vollständigen Absolvierung der obligatorischen Dienstpflicht frühestens im 30. Altersjahr. Für Spezialisten und Offiziere gelten andere Vorschriften.

Ein Zivildienst wurde in der Schweiz erst 1996 nach jahrelangen Debatten infolge einer Verfassungsänderung eingeführt.

Die Schweizer Armee

Verfügt derzeit über rund 155’000 aktive Dienstleistende und 32’000 Personen als Reservisten.

2012 wurden 23’600 Rekruten ausgebildet

Gegenwärtig sind rund 1000 Frauen Mitglieder der Armee

2650 Personen sind Berufssoldaten.

Pazifisten

In der Schweiz gelangt vermutlich noch in diesem Jahr eine Initiative der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) zur Abstimmung, welche die Wehrpflicht aufheben will. Das Parlament hatte im Dezember mit der Debatte begonnen, die nun im Ständerat (Kleine Kammer) fortgesetzt wird, bevor die Regierung das Abstimmungsdatum festlegt.

Damit gelangt innerhalb von 25 Jahren die dritte Initiative gegen die allgemeine Wehrpflicht zur Abstimmung.

1989 erzielte die GSoA einen überraschenden Ja-Stimmenanteil von 35,6% bei einer Vorlage, die als Tabubruch gegolten hatte. Die Unterstützung für ein ähnliches Vorhaben – die Initiative “Für eine glaubwürdige Sicherheitspolitik und eine Schweiz ohne Armee” -schrumpfte 2001 auf lediglich 21,9% Ja-Stimmen.

Im letzten Jahr sammelte die pazifistische Gruppe mit der Unterstützung der Mitte-Links-Parteien genügend Unterschriften zugunsten ihrer Initiative für eine Aufhebung der Wehrpflicht. Diese sieht die Bildung einer Armee mit Freiwilligen sowie eines freiwilligen Zivildiensts vor.

Unvorhersehbare Ereignisse ausgeschlossen, dürften die Anhänger der Wehrpflicht in den nächsten Jahren weiterhin Oberwasser behalten.

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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