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Parteien auf Stimmenfang in der Fünften Schweiz

Ob die Auslandschweizer im Herbst wohl einen Sitz im Parlament erobern werden? Keystone

Internationale Sektionen, Web-Sites, Polit-Debatten im Ausland, Wahllisten für Kandidierende "aus der Diaspora": Vermehrt bemühen sich die Parteien um Auslandschweizer-Stimmen. Echtes Interesse am Schicksal dieser Bürger oder vor allem Wahlpropaganda?

“Im Inland wissen nur wenige, wie viele Schweizer wirklich im Ausland leben”, sagt der sozialdemokratische Nationalrat Hans-Jürg Fehr. “Und wer die Zahl schätzen muss, unterschätzt sie meistens.” Denn mit über 700’000 Personen stelle die Fünfte Schweiz eine Gemeinschaft dar, die grösser sei als die meisten Kantone – Zürich und Bern ausgenommen.

Lange Zeit wurde das Wachstum der Auslandschweizer-Gemeinde kaum wahrgenommen. Doch in letzter Zeit haben zumindest die politischen Parteien reagiert. Und zwar aus mindestens zwei Gründen.

So hat sich erstens das Wähler-Reservoir ausserhalb des Landes seit der Einführung des brieflichen Stimm- und Wahlrechts 1992 praktisch verzehnfacht. Über 135’000 figurieren heute in den Stimm-Registern. 

Zweitens hat sich seit den 1990er-Jahren der Wettbewerb unter den politischen Akteuren intensiviert. So können es sich die Parteien heute nicht mehr leisten, das Stimmenpotenzial im Ausland zu vernachlässigen. Sie messen sich nun auch ausserhalb der Grenzen über internationale Parteisektionen, Internet-Seiten, Debatten und Wahlkomitees.

Auch am kommenden Auslandschweizer-Kongress, der vom 26. bis 28. August in Lugano stattfindet, wird eine grosse Parteipräsenz erwartet.

Über 80 Kandidaten

Im vergangenen Jahrzehnt hat sich, wenn auch ohne Erfolg, die Zahl der für die Parlamentswahlen kandidierenden Auslandschweizer stark erhöht: 15 waren es im Jahr 2003, 55 im Jahr 2007 und mehr als 80 dieses Jahr.

Besonders aktiv war die Schweizerische Volkspartei (SVP). Sie präsentiert für den kommenden 23. Oktober acht für Auslandschweizer reservierte kantonale Listen mit über 50 Kandidierenden.

Es folgt die Sozialdemokratische Partei (SP) mit drei kantonalen Listen für 14 Kandidierende. Die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP) und die Grünen verfügen je über eine Liste in Genf, während sich die Freisinnig-demokratische Partei (FDP.Die Liberalen) auf drei Kandidierende in drei Kantonen beschränkt.

Hatten diese Parteien vermehrt Schwierigkeiten, Kandidierende im Ausland zu finden, oder schlagen sie einfach eine andere Strategie ein?

Wahlkalkül

“Wir haben uns auf den Kanton Genf beschränkt, weil wir uns auf Kandidierende aus dem nahen Frankreich konzentrieren wollen”, sagt FDP-Generalsekretär Tim Frey. “Diese können auch vorgestellt werden und wirklich an der Kampagne teilnehmen.” Es helfe nichts, unbekannte Kandidaten aus fernen Ländern aufzustellen, wie das die SVP tue, die damit eigentlich nur Stimmen aus der Fünften Schweiz anziehen wolle.

“Wir haben darauf verzichtet, weil wir überzeugt sind, dass solche Kandidaten chancenlos sind”, sagt auch Samuel Lanz, Chef der internationalen FDP-Sektion. “Wenn wir wirklich die Interessen der Auslandschweizer vertreten möchten, müssen wir ihnen eine Stimme im Parlament verschaffen.” Die FDP konzentriere sich deshalb auf ihre inländischen Kandidierenden, die sich verpflichteten, die Interessen der Auslandschweizer zu unterstützen.

Miriam Gurtner, Generalsekretärin der internationalen SVP-Sektion, hält dagegen: “Bestimmt tragen unsere Wahllisten dazu bei, die Schweizer Bevölkerung für die Anliegen der Auslandschweizer zu sensibilisieren. Wir bemühen uns auch, die Kandidierenden aus dem Ausland möglichst in unsere Strukturen, Kommissionen und Versammlungen zu integrieren.”

27. Kanton?

Trotz all diesen Bemühungen glaubt Hans-Jürg Fehr nicht daran, dass ein Kandidat aus der Diaspora in diesem Herbst die Wahl schaffen werde: “Die einzige Möglichkeit für einen Auslandschweizer, gewählt zu werden, besteht darin, für die Fünfte Schweiz einen separaten Wahlkreis zu schaffen und diesen wie einen 27. Kanton zu behandeln.”

Eine entsprechende parlamentarische Initiative, von einem Sozialdemokraten lanciert, ist vor zwei Jahren im Nationalrat angenommen,  im Ständerat jedoch abgelehnt worden. Die SP will sich in der nächsten Legislatur von neuem mit diesem Anliegen beschäftigen.

Der sozialdemokratische Vorschlag, der sich nach den bereits existierenden Modellen in anderen Ländern richtet, stösst jedoch nicht unbedingt auf die Gunst der anderen Parteien: Der 27. Kanton sei “ein falscher Weg, denn die Auslandschweizer bleiben ihren angestammten Kantonen verbunden”, sagt Lanz.

Mit einem “Auslandschweizer-Kanton” würden sie ihre Rechte in ihrem angestammten Kanton verlieren. Es nütze deshalb wenig, das Problem eine Stufe nach oben, an den Bund, weiterzureichen. Besser wäre es, die politischen Rechte der Auslandschweizer in ihren jeweiligen Kantonen zu verbessern.

Laut Frey ist die Freisinnige Partei noch nicht zu einem endgültigen Schluss gekommen, was diesen Vorschlag betrifft. Er glaubt aber, der Vorschlag widerspreche dem Föderalismusprinzip. Das findet auch Miriam Gurtner: “Die Auslandschweizer darf man nicht zwingen, nur unter ihresgleichen, also Auslandschweizer-Kandidaten, auswählen zu dürfen. Sie müssen sich auch für Kandidaten aus ihren Kantonen entscheiden können.”

Der 89. Auslandschweizer-Kongress findet vom 26. bis 28. August 2011 in Lugano statt.

Das diesjährige Thema lautet “Direkte Demokratie im internationalen Kontext”.

Am 26. August wird der Auslandschweizerrat über die bevorstehenden eidgenössischen Wahlen debattieren, für die auch Vertreter der Fünften Schweiz aus den grossen Parteien kandidieren.

An der Plenarversammlung vom Samstag wird als Vertreterin des Bundesrats Doris Leuthard eine Ansprache halten.

Um an den eidgenössischen Wahlen teilzunehmen, müssen sich die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer in ein Wahlregister eintragen. Wählen können sie in ihrer letzten Wohngemeinde in der Schweiz oder in ihrem Heimatort.

Die Landsleute im Ausland können in allen 26 Kantonen den Nationalrat wählen oder sich in die Grosse Kammer wählen lassen. Für den Ständerat, die Kleine Kammer, haben sie diese Rechte jedoch nur in 11 Kantonen.

Seit 1992 die schriftliche Stimmabgabe eingeführt wurde, hat die politische Partizipation aus der Fünften Schweiz stark zugenommen. Ende 2010 waren 135’877 Auslandschweizer im Stimm- und Wahlregister eingetragen.

An den letzten nationalen Wahlen 2007 hatten 44 Ausland-Schweizer für den Nationalrat kandidiert. Keinem von ihnen gelang jedoch der Sprung in die Grosse Kammer.

Schweizerische Volkspartei SVP: Rund 50 Kandidierende auf 8 separaten Wahllisten für Auslandschweizer in den Kantonen Aargau, Basel-Stadt, Genf, Graubünden, Schaffhausen, Solothurn, Schwyz und Zürich.

Sozialdemokratische Partei SPS: 14 Kandidaten auf 3 Listen für die Fünfte Schweiz in den Kantonen Genf, Schaffhausen und Zürich.

Grüne Partei der Schweiz: 6 Kandidaten auf einer separaten Wahlliste im Kanton Genf.

Christlichdemokratische Volkspartei CVP: 4 Kandidierende auf einer Liste für Auslandschweizer im Kanton Genf.

FDP.Die Liberalen: 3 Kandidaten auf den normalen Wahllisten der Partei in Basel-Stadt und Zürich.

Bürgerlich-Demokratische Partei Schweiz BDP: 1 Kandidat auf der Liste im Kanton Schwyz.

(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle und Gaby Ochsenbein)

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