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Patientengeheimnis: Luxus oder Notwendigkeit?

Wer muss alles erfahren, welche Krankheiten ein Patient hat? Keystone

Einmal mehr ist das Krankenversicherungs-Gesetz in Revision. Gestritten wird auch um das Patientengeheimnis. Die Ärzte wollen Diagnosen möglichst diskret behandeln. Die Krankenkassen hingegen wären nicht unglücklich, mit mehr Diagnose-Transparenz die Kosten besser überprüfen zu können.

Auch 2011 sollen die Kassen-Prämien wieder steigen. Das Krankenversicherungs-Gesetz (KVG) wird wieder revidiert, denn der Druck zur Eindämmung der Kosten wächst. Ein über die Prozeduren hinaus reichender Dissens in der Revision betrifft das so genannte Arztgeheimnis, das eigentlich ein Patientengeheimnis ist.

Dieses wird in der Schweiz höher geachtet als in vielen Ländern Europas. Die Schweizer lassen es sich auch etwas kosten, meint der Gesundheitsökonom Heinz Locher. Mit andern Worten: Es gibt ein Sparpotential: Die Krankenkassen rechnen bis zu einer Milliarde Franken.

Erschwerte Kostenbeurteilung ohne Diagnose

“Die Krankenversicherer müssen in gewissen Einzelfällen vertieft nachprüfen können, ob die verschiedenen Behandlungen auch wirklich nötig waren “, sagt santésuisse-Sprecherin Silvia Schütz gegenüber swissinfo.ch, “und das geht nur, wenn die entsprechende Diagnose beim Arzt eingefordert werden kann.”

Das stimme, wendet Marc Müller, Hausarzt und Präsident des Kollegiums für Hausmedizin, ein, wobei man bisher einig gewesen sei, dass diese Diagnose relativ grob bleiben dürfe. Dass Arztrechnungen in Zukunft auch mit Codes versehene Diagnosen erhalten sollen, hat Mitte September die Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (FMH) zu einem besorgten Mail an Parlamentarier veranlasst.

Um den Krankenkassen kodierte Feindiagnosen liefern zu können, so Müller, hätten die Spitäler extra Diagnosecode-Spezialisten anstellen müssen. Auch das gehe ins Geld: Dem Hausarzt würde aus der komplexen Kodierung, wie sie die Krankenkassen verlangten, ein zu grosser Administrationsaufwand erwachsen.

Nicht genug: Es geht auch noch um eine automatische elektronische Lieferung dieser Diagnose-Daten an die Krankenkassen. 2012 soll dieses “SwissDRG” genannte System bei den Spital-Rechnungen eingeführt werden: Dabei geht es um Fallpauschalen. Angesprochen ist der Datenschutz.

Ängste diffus oder begründet?

Schütz beruhigt: Die Krankenkassen hätten die mit Codes versehene Diagnose für Arztrechnungen nicht gefordert, aber wären natürlich nicht unglücklich, sie zu haben, um die Kosten besser zu kontrollieren. Der Versicherer habe den gesetzlichen Auftrag, die Arztrechnungen zu kontrollieren. Und dies wie heute systematisch ohne Diagnose zu tun, sei erschwerend.

Was die automatische, elektronische Weitergabe der Diagnose angehe, so würde die Furcht vor Datenlecks zwar als Argument dagegen angeführt. Silvia Schütz lässt dies aber nicht gelten. Auch die Krankenversicherer unterlägen der Datenschutz-Bestimmung, was die Diagnose-Informationen betreffe, die sie von den Ärzten erhielten: “Analog zum Arzt, den man wegen der Verletzung des Arztgeheimnisses belangen könnte, sei es auch Krankenversicherern verboten, Diagnosedaten weiter zu geben.”

Müller relativiert: “Wenn ein Patient diese Weitergabe einklagen muss, ist es ohnehin schon zu spät. In Einzelfällen Auskünfte hereinholen dürfen Versicherer schon heute, zum Beispiel wenn ihnen die Arztrechnung seltsam erscheint. Das ist kein Problem.” Im Fall der systematischen Datenweitergabe zwischen Arzt und Versicherer hingegen habe es Diskussionen gegeben.

Diese hat Ängste unter den Patienten hervorgerufen, von den Krankenkassen nicht mehr in Zusatzversicherungen aufgenommen zu werden, falls die Diagnosedaten verbreitet würden, räumt Schütz ein. Darum gehe es aber nicht, denn solche Praktiken wären verboten.

Die Ängste seien nicht diffus, sondern basierten auf der Erfahrung der Hausärzte, wendet Müller ein: “Wir trauen dem Umgang der Krankenkassen mit den Daten nicht, denn wir sind gebrannte Kinder.”

“Legitime Güterabwägung”: Patient hat Vorrang

Gesundheitsökonom Heinz Locher plädiert für eine “legitime Güterabwägung” zwischen den Interessen von Patienten, Ärzten und Versicherern. “Diese drei Kräfte ringen in der politischen Auseinandersetzung miteinander. Doch das Interesse des Patienten am Schutz seiner Daten ist evident und steht im Vordergrund.”

Zwar sei es auch legitim, dass die Versicherer für ihre Kostenkontrolle Diagnoseinformationen bräuchten, die Frage sei aber, wie viel. Und: Sollen die Kassen die Diagnose automatisch erhalten, oder nur wenn Probleme auftauchen?

Ausserdem sei wichtig, wer bei der Krankenkasse die Diagnose zu sehen bekomme: Nur der Vertrauensarzt, oder auch das Personal in der Verwaltung? Bei den Ärzten sei es offensichtlich, dass sie ihre Patienten schützen wollten, so Locher. Andererseits fühlten sie sich von den Krankenkassen kontrolliert.

Zugang zur Medizin besser als im Ausland

Wenn die Schweizer Patienten eine grössere Privatsphäre als viele andere Europäer beanspruchten, müssten sie dafür auch mehr bezahlen.

“Das schweizerische Gesundheitssystem ist bei der Grundversicherung auf dem europäischen Kontinent sicher das liberalste, auch was die Wahlfreiheit des Patienten betrifft. Und das hat seinen Preis”, so Locher gegenüber swissinfo.ch. Das könne bis zwei, drei oder vier Prozente des Bruttosozialprodukts betragen.

Ausserdem könne der Patient in der Schweiz für die gleiche Krankheit “gleichzeitig zu drei Ärzten” gehen. “Auch ein nur obligatorisch Grundversicherter kommt in der Schweiz sofort zu seinem Arzt, auch zum Spezialisten.”

Sofort medizinische Leistungen beanspruchen zu können, sei in vielen Ländern Europas nicht mehr möglich, so Locher: “In Grossbritannien ist der Gratiszugang nur auf dem Papier garantiert. Deshalb hat sich die Regierung zum Ziel gesetzt, den Zugang der Patienten zum Spezialarzt de facto innert 18 Wochen – nicht Tagen! – zu ermöglichen.” Mit anderen Worten: Heute gehe es oft noch länger. Auch in Teilen Frankreichs, zum Beispiel in Paris, habe man heute ohne Zusatzversicherung keine Chance, innert vernünftiger Frist an einen Spezialarzt zu gelangen.

In den Niederlanden sei der Zugang ähnlich gut wie in der Schweiz, aber zwingend nur, wenn der Patient über seinen Hausarzt gehe.

Da in Deutschland das Sachleistungsprinzip gelte, sei dort keine Möglichkeit zur Geheimniswahrung mehr gegeben, sagt Locher. Die deutschen Patienten würden direkte medizinische Dienstleistungen statt Geld beziehen, deshalb hätten sie keinen Anspruch auf finanzielle Rückvergütung der Kosten, sondern auf die Leistung.

2007 kostete das Schweizer Gesundheitswesen rund 55 Mrd. Franken, wobei fast die Hälfte auf die stationäre Behandlung (Spitäler) entfiel.

Zur Zeit dürfte die 60-Mrd.-Schwelle erreicht oder überschritten sein.

Somit verschlingt das Gesundheitswesen rund 11% des Schweizer Bruttoinlandprodukts.

Andererseits sind bereits über eine halbe Million Menschen, davon rund 15’000 Ärzte, im Gesundheitswesen beschäftigt.

Bereits im ärztlichen Eid des Hippokrates ist die Verschwiegenheitspflicht enthalten.

Die Arztgeheimnis verpflichtet Ärzte rechtlich, ihnen anvertraute Geheimnisse nicht an Dritte weiterzugeben (Berufsgeheimnis).

Diese Schweigepflicht ist mit dem Datenschutz verknüpft.

Sie schützt die Privatsphäre (persönlicher Lebens- und Geheimnisbereich) einer Person.

Auch Psychotherapeuten, Zahnärzte und andere Angehörige von Heilberufen unterliegen dieser Schweigepflicht.

Allgemein unterstehen der Schweigepflicht aber auch andere Berufsgruppen, wie Advokaten, Steuerberater, Amtsträger, etc.

Unter das Arztgeheimnis fällt nicht nur die (Verdachts-)Diagnose, sondern auch andere Informationen wie Lebenssituation, Süchte oder Vermögen des Patienten.

Die Schweigepflicht gilt nicht nur gegenüber Krankenkassen, sondern beispielsweise auch gegenüber Familie, Freunden, Massenmedien oder Polizei.

Mit dem Einverständnis des Betroffenen oder in einem Notfall kann/muss dennoch Auskunft gegeben werden.

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