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“Afghanistan-Konferenz in Kabul ist eine Chimäre”

Freund oder Feind? Ein afghanischer Polizist überprüft in der Taliban-Hochburg Kandahar Verdächtige. Keystone

Die Afghanen sollen ab 2014 selber für Sicherheit sorgen. Dies ist das Ergebnis der internationalen Afghanistan-Konferenz. Afghanistan-Kenner Albert A. Stahel sagte im Vorfeld, er glaube nicht, dass sich die Lage am Hindukusch durch die Konferenz verbessere.

Rund 40 Aussenminister und hochrangige Vertreter aus 30 weiteren Ländern nahmen am Dienstag an der internationalen Afghanistan-Konferenz in Kabul zum Thema “Good Governance” (Gute Regierungsführung) teil.

Prominenteste Teilnehmer des eintägigen Anlasses waren UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon und Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen.

Hinter schwer geschützten Mauern wollten sie eine erste Bilanz ziehen über die Strategie der Annäherung an die Taliban, die vor einem halben Jahr in London beschlossen wurde.

Die ausländischen Truppen müssten die Verantwortung für die Sicherheit in Afghanistan nach und nach an die einheimischen Sicherheitskräfte übergeben, sagte Karzai. Zudem wolle seine Regierung mehr Kontrolle über den Einsatz von Hilfsgeldern in Afghanistan.

Keine Illusionen über das Treffen in der afghanischen Hauptstadt macht sich der Sicherheitsexperte Albert A. Stahel. Der Leiter des Instituts für Strategische Studien an der Universität Zürich kennt das Land am Hindukusch von zahlreichen Reisen.

swissinfo.ch: Beobachter sind sich schon lange einig, dass der jahrzehntelange Konflikt mit militärischen Mitteln für beide Seiten nicht zu gewinnen ist. Gibt es überhaupt eine Alternative zur Annäherung an die Taliban?

Albert Stahel: Man muss versuchen, mit ihnen in Verhandlungen zu treten, schon nur, um herauszufinden, was sie genau wollen.

An und für sich wollen sie die ganze Macht. Vermutlich läuft es aber auf eine Machtteilung hinaus. Dann wäre aber die Frage, ob sich Präsident Hamid Karzai noch in Kabul halten könnte. Er wird ja weder von den Taliban noch von der ehemaligen Nordallianz ernst genommen.

Dazu kommt die Frage, inwieweit die Drogenmafia, zu der ja auch die Familie Karzai zählt, bereit zur Machtteilung mit den Taliban ist.

Das sind die Fragen, die vertieft geprüft werden müssten. Dies aber in Kabul zu tun, ist sinn- und zwecklos.

swissinfo.ch: Weshalb sehen Sie keine Chance?

A.S.: Sie wird nichts bringen. Eine solche Konferenz in Kabul, sei es eine Loya Jirga (Versammlung von Stammesältesten) oder ein Friedensseminar, ist eine Chimäre, ein Fake. Damit streut Karzai der internationalen Gemeinschaft höchstens Sand in die Augen.

Die Taliban selber werden sicher nicht in Kabul dabei sein, Mullah Omar und Gulbuddin Hekmatyar kommen nicht aus ihren Verstecken in Pakistan heraus. Allenfalls verhandeln sie via Mittelsmännern mit der Regierung Karzai.

swissinfo.ch: Wo müsste eine Afghanistan-Konferenz stattfinden, damit sie Erfolg haben könnte?

A.S.: In Asien, oder in einem Land wie der Schweiz, in der Türkei, in Saudiarabien oder den Emiraten.

swissinfo.ch: Mit wem soll die Regierung das Gespräch suchen, es gibt ja verschiedene Taliban-Gruppen?

A.S.: Es gibt deren drei: die Schura (Führungsgremium, die Red.) von Mullah Omar in Quetta, Hekmatyar in Peshawar und die Haqqanis aus Khost, die vor allem von Nordwaziristan aus operieren. Daneben gibt es das Phänomen der ‘Teilzeit-Taliban’, Personen, die gegen Bezahlung mitmachen.

Aus den Standorten ist ersichtlich, dass auch die Pakistanis mitmischen.

swissinfo.ch: Die Haltung Pakistans ist äusserst ambivalent. Der pakistanische Geheimdienst baute die Taliban als Instrument auf, bekämpft sie im eigenen Land, will aber über die Taliban Einfluss in Kabul ausüben. Würde ein Dialog mit den Taliban den pakistanischen Einfluss stärken?

A.S.: Pakistan ist wichtiger Drahtzieher und wird mit Geldern aus Saudiarabien unterstützt. Man kann deshalb von einem Netzwerk Pakistan-Saudiarabien-Taliban sprechen.

Pakistan strebt in Afghanistan einen Teil der Macht an. Es möchte seine Position vor allem im Süden und Osten ausbauen, wo Mullah Omar eine Art vorgeschobener Posten Pakistan darstellt.

Als weiteren Faktor kommt die schon angesprochene organisierte Kriminalität hinzu, sprich die Drogenmafia. Sie erstreckt sich über das ganze Land.

swissinfo.ch: Die USA und Präsident Obama sind bisher skeptisch gegenüber einer Annäherung an die Taliban. Weshalb?

A.S.: Das ist logisch, denn die USA würden dabei verlieren. Sie möchten mindestens die Positionen im Osten und Süden halten, weil die USA von dort ihre Drohneneinsätze gegen die Stammesgebiete in Pakistan fliegen. Genau dort aber drängen die Taliban herein.

swissinfo.ch: General McChrystal, der inzwischen von Obama abgesetzte Kommandant der Internationalen Schutztruppen, war ein Befürworter des Dialogs mit den Taliban. Welche Position nimmt sein Nachfolger Petraeus ein?

A.S.: McChrystals Versuch ist vom Tisch, McChrystal ist Geschichte. In den Kämpfen um militärische Stellungen wird Petraeus wieder vermehrt Bombardierungen durchführen lassen.

swissinfo.ch: Sie haben Ende 2009 eine Friedenskonferenz in der Schweiz vorgeschlagen, fanden damit aber im Aussenministerium in Bern kein Gehör. Sehen Sie die Möglichkeit, dass das EDA seine Haltung in dieser Frage ändert? Gerade, wenn Konferenzen wie jetzt in Kabul keine Erfolge zeitigen?

A.S.: Dazu müsste es erst an der Spitze des EDA einen personellen Wechsel geben.

Renat Künzi, swissinfo.ch

Die Regierung Karsai will bis Ende 2015 in 22 der 34 Provinzen rund 36’000 Aufständische in die afghanische Gesellschaft reintegrieren.

Die Kosten: über 800 Mio. Franken.

Das zweiteilige Programm soll einerseits Taliban-Mitläufern den Ausstieg durch finanzielle und materielle Hilfe erleichtern.

Andererseits soll mit ranghohen Kommandanten der Taliban über ein Ende der Gewalt verhandelt werden. Ihnen könnten unter anderem Straffreiheit und Exil in einem sicheren Drittstaat in Aussicht gestellt werden.

Schon im Januar hatte die internationale Gemeinschaft an der Afghanistan-Konferenz in London beschlossen, gemässigten Taliban die Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu erleichtern. Kosten: Rund 140 Mio. Franken.

Im Gegenzug versprach die afghanische Regierung, ihre Anstrengungen für eine bessere Regierungsführung, mehr Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung sowie den Kampf gegen
Drogenanbau zu verstärken.

Die Lage in Afghanistan war im Juni instabiler denn je.

Davon zeugen auch die über 100 Toten auf Seiten der internationalen Schutztruppen (ISAF).

Seit dem Sturz der Taliban-Regierung 2001 hat es noch nie so viele Opfer in einem Monat gegeben.

Am Sonntag riss ein Selbstmordattentäter in Kabul mindestens drei Menschen mit in den Tod.

Die Nato gab den Tod von drei Soldaten bekannt.

In Farah im Westen des Landes befreiten die Taliban elf Häftlinge aus einem Gefängnis.

Im Süden werden die Taliban immer stärker, die militärische Offensive gegen die Islamisten gerät dort ins Stocken.

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