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“Kosmetische Reformen können weitere Finanzkrise nicht verhindern”

Sergio Rossi
Sergio Rossi, Professor für Makroökonomie und Geldwirtschaft an der Universität Freiburg. Claudio Bader

Die neuen internationalen Regeln reichen nicht aus, um Spekulationsblasen und weltweite Finanzkrisen abzuwenden, sagt Sergio Rossi, Professor für Makroökonomie an der Universität Freiburg. Laut dem Geldwirtschafts-Spezialisten sind zur Stabilisierung des Bankensektors Strukturreformen nötig, wie sie die Vollgeld-Initiative vorsieht.

swissinfo.ch: Die so genannte Vollgeld-Initiative schlägt eine radikale Reform des Währungssystems der Schweiz vor. Warum sollte das gegenwärtige System korrigiert werden?

Sergio Rossi: Das gegenwärtige Währungssystem erlaubt den Geschäftsbanken, Kredite an Kunden zu vergeben, ohne dass diese Kredite ganz durch Guthaben gedeckt sind. Und dies auch, wenn mit diesen Krediten Aktivitäten finanziert werden, die kein Wirtschaftswachstum bringen.

Deshalb nimmt die Geldmenge übermässig zu, das heisst, sie ist nicht mit einer Zunahme der Produktion von Waren oder Dienstleistungen verbunden. Das führt zu Inflationsdruck, auch wenn dieser auf dem Gütermarkt nicht sichtbar wird.

Es braucht daher eine strukturelle Währungsreform, damit die Banken nicht mehr die Hebelwirkung (Leverage) missbrauchen können. Denn solche Missbräuche erhöhen die finanzielle Fragilität des gesamten Bankensystems.

“Eine neue, verheerende Krise könnte früher eintreffen, als viele ‘Experten’ derzeit für wahrscheinlich halten.”

swissinfo.ch: Laut den Befürwortern der Initiative fördert die Schaffung von Geld durch die Geschäftsbanken Spekulation und Finanzblasen. Wie kann das passieren?

S.R.: Der weitaus grösste Teil der von Banken gewährten Kredite betrifft Finanzmarkt-Transaktionen. Die Banken gewähren sich gegenseitig Kreditlinien, um alle Arten von finanziellen Vermögenswerten zu erwerben, mit denen sie kurzfristig höhere oder niedrigere Renditen erzielen können.

Der Grossteil dieser Transaktionen, welche die Banken täglich mit hoher Frequenz tätigen, führt dazu, dass sich die Preise für Finanzanlagen erhöhen. Damit veranlassen sie andere Wirtschaftsakteure, diese Vermögenswerte zu kaufen, um über deren weiteren Preisanstieg zu spekulieren, und zwar in einer Aufwärtsspirale, was Finanzblasen aufblähen lässt.

Wenn nun immer mehr Schuldner, darunter auch die Banken, ihre Schulden nicht zurückzahlen können, platzt die Finanzblase und schadet sowohl Schuldnern als auch Gläubigern im Bankensystem. Denn die Banken sind eng miteinander verbunden, wie die Subprime-Blase in den USA zeigte, die der Auslöser für die globale Finanzkrise 2008 war.

Vollgeld-Initiative

Die Eidgenössische Volksinitiative “Für krisensicheres Geld: Geldschöpfung allein durch die Nationalbank! (Vollgeld-Initiative)”Externer Link fordert die Einführung eines sichereren Währungssystems. Sie kommt am 10. Juni zur Abstimmung.

Laut den Befürwortern der Initiative wird heute das meiste im Umlauf befindliche Geld von den Geschäftsbanken generiert, durch die Kreditvergabe an Unternehmen, Privatkunden und andere Banken. Zur Kreditvergabe brauchen die Banken kein gleichwertiges Eigenkapital, es reicht, dass der gewährte Betrag in einer Sichteinlage erfasst wird.

Die Benützung dieses elektronisch geschaffenen “Buchgelds” – Geld, das nur in der Buchhaltung existiert – zu rein spekulativen Zwecken habe Finanzblasen und die Vervielfachung weltweiter Krisen, wie sie 2008 ausgebrochen sind, begünstigt.

Deshalb fordert die Vollgeld-Initiative, dass künftig nur noch die Schweizerische Nationalbank (SNB) Geld schöpfen könne, in der Form von “Vollgeld”, das heisst, als legale Zahlungsmittel (Münzen, Banknoten und auch Buchgeld). Die Geschäftsbanken könnten daher nur Geld ausleihen, das von der Nationalbank in Umlauf gebracht worden ist.

swissinfo.ch: Hätte das Vollgeld-System die Schweiz vor einer solchen Krise schützen können?

S.R.: Das von der Vollgeld-Initiative vorgeschlagene System hätte die spekulativen Transaktionen der Banken deutlich reduzieren können, indem es die Möglichkeit der Eröffnung von Kreditlinien auf dem Interbankenmarkt, ohne zuvor über die notwendige finanzielle Absicherung in Form von Spareinlagen ihrer Kunden zu verfügen, verhindert hätte.

Es wird nicht möglich sein, den Ausbruch anderer Finanzkrisen zu verhindern, aber mit einer strukturellen Reform dieses Kreditmechanismus wird es möglich sein, eine weitere Systemkrise zu verhindern.

Tatsächlich geht es darum, zu verunmöglichen, dass das gesamte Finanzsystem, und damit die gesamte Wirtschaft, einer verheerenden Krise zum Opfer fällt. Das ist ein Szenario, das früher eintreffen könnte, als viele “Experten” derzeit für wahrscheinlich halten.

swissinfo.ch: In der Folge der letzten globalen Finanzkrise wurden auf internationaler Ebene neue Regeln für den Bankensektor eingeführt, etwa was das Eigenkapital von Grossbanken betrifft. Diesen hat sich auch die Schweiz angeschlossen. Reichen diese Massnahmen nicht aus?

S.R.: Die derzeitigen Reformen der Finanzregulierung auf nationaler und internationaler Ebene sind nur Kosmetik. Diese können in keiner Weise den Ausbruch der nächsten systemischen Finanzkrise verhindern.

Denken wir beispielsweise an die Erhöhung des Eigenkapitals der Grossbanken: Mit dieser Reform behalten die Banken den Kredithebel, den sie dazu nutzen können, um an den Finanzmärkten attraktive Renditen zu erzielen.

Die Erhöhung ihres Eigenkapitals erfolgt eigentlich nur, weil sich auch das Risiko erhöht hat. Wenn wir wirklich verhindern wollen, dass die Banken die Hebelwirkung missbrauchen, müssen wir direkt in diese Leverage eingreifen, und nicht nur in die Folgen ihres Einsatzes.

swissinfo.ch: Würde ein Vollgeld-System nicht die Aktivitäten und Gewinnmargen der Geschäftsbanken übermässig schmälern?

S.R.: Die Geschäftsbanken werden immer in der Lage sein, die für die Durchführung ihrer Finanzgeschäfte erforderlichen Mittel über die Sparkonten ihrer Kunden einzuziehen, die das Risiko eingehen, der Bank ihre Vermögenswerte gegen Zinszahlungen auszuleihen.

Die Girokonten und Sichteinlagen hingegen sollen aus den Bilanzen der Banken herausgenommen werden, damit die Einleger ihre Ersparnisse nicht verlieren, sollte eine oder mehrere Banken zusammenbrechen.

Die Vollgeld-Initiative verlangt zu Recht, dass die Banken den Unternehmen Kreditlinien zur Unterstützung von Wirtschaftswachstum und Beschäftigung eröffnen, statt dass sie an den Finanzmärkten spekulieren.

Wenn die Geschäftsbanken nicht mehr in der Lage sind, auf diesen Märkten zu spekulieren, werden sie ein deutlich höheres Interesse daran haben, ihre Kredite an kleine und mittlere Unternehmen zu erhöhen und damit die lokale Wirtschaft anzukurbeln, mit zahlreichen positiven Auswirkungen auch auf die öffentlichen Finanzen und den sozialen Zusammenhalt.

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swissinfo.ch: Laut der Landesregierung (Bundesrat) untergräbt diese Initiative den Handlungsspielraum und die Unabhängigkeit der Schweizerischen Nationalbank (SNB).

S.R.: Der Handlungsspielraum der SNB wäre sogar grösser als heute. Gegenwärtig ist sie gezwungen, den Kreditentscheidungen der Banken Rechnung zu tragen und die Geldmenge zu erhöhen, um eine durch das Platzen von Kreditblasen ausgelöste Bankenkrise zu verhindern.

Derzeit geht es bei der Unabhängigkeit der SNB, die sowohl in der Bundesverfassung als auch im Bundesgesetz über die Schweizerische Nationalbank verankert ist, nur um die politische Beeinflussung. Doch tatsächlich ist die SNB, wenn man genau hinschaut, operativ nicht unabhängig vom Bankensektor. Denn sie darf sich nicht weigern, in eine Bankenkrise einzugreifen, die von Banken verursacht wurde, die allein oder zusammen zu gross sind, um zu versagen [too big to fail].

swissinfo.ch: Die Schweiz wäre nach einer Annahme der Initiative das einzige Land mit einem System, das auf Vollgeld basiert. Besteht da nicht das Risiko, dass es in unserem Land zu gravierenden finanziellen und wirtschaftlichen Turbulenzen kommen könnte?

S.R.: Wenn die von der Vollgeld-Initiative vorgeschlagene Strukturreform die Banken daran hindert, die Hebelwirkung zu missbrauchen, ermöglicht die daraus resultierende erhöhte finanzielle Stabilität der Banken diesen, sich zu niedrigeren Zinssätzen als im Rest der Welt zu refinanzieren.

Das steuert zum Wachstum der Schweizer Wirtschaft bei, hauptsächlich, weil die SNB nicht mehr von den kurzfristigen Interessen der Banken abhängig ist, die ihr geldpolitische Entscheidungen auferlegen, die den allgemeinen Interessen des Landes entgegenlaufen.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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