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Auslandschweizer-Organisation beklagt “Führungsschwäche” der Regierung beim E-Voting

Mann mit Handy scannt QR-Code
Es ist von entscheidender Bedeutung, dass die Schweizer Bevölkerung im Ausland Zugang zu einem sicheren elektronischen Wahlsystem hat. Alexandra Wey/Keystone

Was bedeutet das faktische Ende der E-Voting-Optionen für die Schweizer Community im Ausland? Der Präsident der Auslandschweizer-Organisation bringt seine Besorgnis zum Ausdruck und skizziert im Vorfeld der Eidgenössischen Wahlen vom Oktober die Optionen.

Die elektronische Stimmabgabe ist für Stimmberechtigte im Schweizer System der direkten Demokratie keine Option mehr, nachdem die Regierung jüngst entschieden hat, die Pläne für eine permanente und flächendeckende Einführung von Online-Instrumenten fallen zu lassen; zudem wurden die beiden Systeme, die während längeren Testphasen im Einsatz standen, ausser Betrieb genommen.

Inmitten wachsender Skepsis in der Bevölkerung gegenüber der neuen Technologie argumentierten die Behörden und IT-Unternehmen vor allem mit technischen Mängeln und Sicherheitsbedenken.

Remo Gysin
ASO-Präsident Remo Gysin ¬© Keystone/Anthony Anex

Die Auslandschweizer-OrganisationExterner Link (ASO) zeigte sich schockiert über die Abkehr der Regierung von ihrer bisher verfolgten Politik. Die Organisation hatte in den letzten 16 Jahren erhebliche Ressourcen in die Förderung der elektronischen Stimmabgabe investiert, wie ASO-Präsident Remo Gysin erklärt.

Das Thema wird an der Session des Auslandschweizer-Rats, die am 16. August im Vorfeld des Jahreskongresses der Auslandschweizer in MontreuxExterner Link stattfindet, einen wichtigen Platz einnehmen. Gysin sprach jüngst darüber, was seiner Ansicht nach die nächsten Schritte sein dürften.

swissinfo.ch: Vor mehr als einem Monat beschloss die Schweizer Regierung, ihre Pläne für eine dauerhafte Einführung des E-Votings aufzugeben. Wie hart traf dies die Auslandschweizer-Gemeinschaft?

Remo Gysin: Der Entscheid der Regierung hat uns überrascht. Es war eine herbe Enttäuschung. Es ist schade für unsere Demokratie und wirft ein schlechtes Licht auf die Ambitionen der Schweiz als Drehscheibe für technologische Innovationen.

swissinfo.ch: Warum ist die Option der elektronischen Stimmabgabe für die Auslandschweizer-Organisation so wichtig?

R.G.: Die rund 180’000 stimmberechtigten Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer erhalten ihre Stimmzettel per Post. Oft treffen die Unterlagen spät ein – zu spät, um sich Zeit nehmen zu können, Fragen rund um eine Abstimmung zu studieren oder sich bei Wahlen ein Bild der Kandidaten oder Kandidatinnen zu machen. Treffen die Stimmcouverts schliesslich wieder in der Schweiz ein, sind die Stimmen längst ausgezählt.

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Das Problem der langsamen Postdienste existiert zudem nicht nur in weniger industrialisierten, weit entfernten Ländern, sondern betrifft auch Auslandschweizer und Auslandschweizerinnen, die in abgelegenen Regionen unserer Nachbarländer Frankreich, Deutschland und Italien leben.

Anders gesagt: Das E-Voting ist der einzige praktische Stimm- und Wahlkanal, damit Schweizer Staatsangehörige, die im Ausland leben, ihre durch die Schweizer Verfassung garantierten demokratischen Rechte ausüben können.

swissinfo.ch: Der Entscheid der Regierung löste bei Lesern und Leserinnen der Schweizer Revue, des Auslandschweizer-Magazins, sowie in sozialen Medien eine Flut von meist negativen ReaktionenExterner Link aus. Es herrschte generell ein Gefühl von Enttäuschung, gepaart mit Unverständnis. Einige argumentierten, dies sei auch ein Trick, um eine Minderheit auszuschliessen, die ausserhalb des Landes lebt und unter Umständen eine kritischere Sicht auf die Schweiz habe. Teilen Sie diese Vermutungen?

R.G.: Ich glaube nicht, dass der jüngste Entscheid der Regierung Teil einer Strategie ist, die darauf abzielt, die Auslandschweizer-Gemeinschaft vom demokratischen Prozess auszuschliessen.

Die ASO konnte in der Vergangenheit immer auf die Unterstützung der Schweizer Regierung und der Bundesverwaltung zählen, auch bei unseren Bemühungen zur Einführung der brieflichen Stimmabgabe in den 1990er-Jahren. Bis vor Kurzem hatten sowohl Bundes- als auch Kantonsbehörden Verständnis für unsere Anliegen gezeigt.

Allerdings sind die politische Bereitschaft und die finanzielle Unterstützung, die elektronische Stimmabgabe voranzutreiben, ins Stocken geraten. Nach 16 Jahren erfolgreicher Testverfahren mit Online-Technologien erwarten wir mehr von den Schweizer Behörden. Wir wollen, dass sie aktiver werden, während wir gleichzeitig anerkennen, dass die Förderung der Digitalisierung auf der Agenda der Regierung ziemlich weit oben steht.

swissinfo.ch: Wer ist Ihrer Ansicht nach verantwortlich für das aktuelle Debakel bei der Einführung des E-Votings?

R.G.: Der Kern des Problems liegt in der Frage nach der Datensicherheit; dazu kommt die mangelnde Koordination zwischen den verschiedenen Beteiligten.

Es war nicht möglich, zweifelsfrei zu garantieren, dass die Systeme, die bis vor Kurzem im Einsatz standen, Hackerangriffen standhalten konnten. Und Sicherheit ist oberstes Gebot, sie kommt bei der Einführung des E-Voting vor Geschwindigkeit, das sieht auch die ASO so.

Dazu kommen die föderalistische Staatsstruktur der Schweiz und die vielen verschiedenen Akteure: Die IT-Unternehmen als Systemanbieter, die kantonalen und lokalen Behörden, die das E-Voting-System umsetzen, die Schweizer Regierung als Promotorin sowie die Bürger und Bürgerinnen als Nutzende.

Unserer Ansicht nach fehlte es der Regierung als Koordinatorin spürbar an Führungskraft; sie hätte für die Entwicklung eines verlässlichen und vertrauenswürdigen E-Voting-Systems zur Gewährleistung der politischen Rechte die Leadership übernehmen müssen. Das ist die Schlüsselrolle der Bundesbehörden und wird es auch in Zukunft sein.

Wenn wir aus dem Debakel eine Lehre ziehen können, dann diese: Ein volles Engagement des Bundes bleibt entscheidend.

swissinfo.ch: Welche konkreten Schritte hatte die ASO in der Vergangenheit unternommen, um das E-Voting voranzubringen?

R.G.: Es würde mehr Raum und Zeit einnehmen, als wir hier zur Verfügung haben, um alle Anstrengungen der ASO aufzulisten, die elektronische Stimmabgabe in der Öffentlichkeit, im Parlament, im Gespräch mit der Landesregierung und den Kantonsregierungen sowie mit anderen Akteuren voranzubringen. Sei es durch persönliche Kontakte, durch Sensibilisierung, Vermittlung von Information, Teilnahme an Konsultationsverfahren bei Gesetzesreformen (Vernehmlassungen), durch Lobbyarbeit im Parlament und bei den politischen Parteien.

Der Auslandschweizer-Rat – die Versammlung der Delegierten der Auslandschweizer-Gemeinden [oft als Parlament der Fünften Schweiz bezeichnet] – hat seit 2011 drei Resolutionen verabschiedet, die unsere Forderungen an ein globales Publikum richten. Ein vierter Anlauf ist im Gang und wird bei der nächsten Sitzung des Rats in Montreux diskutiert.

Im November 2018 übergab die ASO der Bundeskanzlei eine Petition mit mehr als 11’000 Unterschriften, die in kurzer Zeit zusammengekommen waren; die Petition fordert die Einführung der elektronischen Stimmabgabe für sämtliche Schweizer Bürger und Bürgerinnen in aller Welt.

Vor zwei Jahren konnten die Auslandschweizer und -schweizerinnen in Australien und Mexiko ihre Delegierten für den Auslandschweizer-Rat mit Hilfe des vom Kanton Genf zur Verfügung gestellten E-Voting-Systems wählen.

swissinfo.ch: Wie viele finanzielle oder personelle Mittel der ASO sind im Verlauf der Jahre in die Förderung des E-Votings geflossen?

R.G.: Wir haben den Aufwand zur Förderung der elektronischen Stimmabgabe nicht separat erfasst. Aber man kann mit Sicherheit sagen, dass unzählige Stunden und viel Energie investiert wurden. Es war alles Teil des regulären Budgets der Organisation.

Die grössten finanziellen Brocken wurden von den Entwicklungsfirmen der Systeme und den Kantonen getragen. Ich bin nicht überrascht, dass einige Kantone erwägen, finanziellen Schadenersatz zu fordern.

swissinfo.ch: Was sagen Sie zu Kritikern, die der ASO vorwerfen, sie habe bei ihren Anstrengungen für die Einführung des E-Votings völlig versagt?

R.G.: Niemand ist perfekt. Aber ohne anmassend zu sein, ich weiss nicht, was wir anders hätten tun können oder sollen, um die aktuelle verfahrene Lage zu verhindern.

Zudem ist es uns gelungen, das Thema auf die öffentliche Agenda zu setzen, was eine intensive politische Debatte zwischen Befürwortern und Gegnern auslöste, insbesondere mit der Gruppe, die eine Volksinitiative lanciert hat, die ein faktisches Ende aller Schritte zur Einführung des E-Votings fordert.

swissinfo.ch: Hat die ASO die Opposition oder die technischen Mängel der eingesetzten Systeme zu lange unterschätzt?

R.G.: Ich glaube nicht. Wir haben die Diskussionen zu den Sicherheits-Aspekten in den vergangenen 16 Jahren aufmerksam verfolgt. Und wir haben Gegner eingeladen, ihre Argumente vor dem Auslandschweizer-Rat darzulegen.

Wir waren uns der möglichen Schwierigkeiten bewusst. Aber es ist nicht unsere Aufgabe, selbst ein technisches System zu entwickeln.

Wie kommt es, dass ein Land wie Estland die elektronische Stimmabgabe einführen kann, oder Schweizer Banken ein System, das als sicher gilt für Finanztransaktionen? Während der Technologie-Sektor unseres Landes, bekannt für seine Spitzenposition in Wissenschaft und Innovation, nicht fähig zu sein scheint, auf diesem Gebiet ausreichende Fortschritte zu machen?

swissinfo.ch: Die Initianten des Volksbegehrens für ein E-Voting-Moratorium haben mit dem Sammeln von Unterschriften begonnen. Finden Sie es beruhigend, zu hören, dass eine Studie der Denkfabrik Avenir Suisse jüngst zum Schluss kam, es sei nur noch eine Frage der Zeit, bis das Abstimmen und Wählen mit Online-Instrumenten eine verfügbare Option sein werde?

R.G.: Ich glaube, dass diese Initiative ein Worst-Case-Szenario für die IT-Branche der Schweiz und deren Wettbewerbsvorteil ist, aber auch für die Demokratie des Landes und insbesondere für die Schweizerinnen und Schweizer, die im Ausland leben.

Würde die Initiative von der Stimmbevölkerung angenommen, würde dies für mindestens fünf Jahre einen technologischen Stillstand und für viele Auslandschweizerinnen und -schweizer eine unüberwindbare Hürde bedeuten, sich am politischen Entscheidungsprozess im Rahmen des direktdemokratischen System ihres Herkunftslandes zu beteiligen.

Ich begrüsse und teile die Schlussfolgerungen der Experten der Denkfabrik. Aber dies ist ein schwacher Trost. Es reicht nicht, irgendwann in Zukunft eine Lösung zu haben. Wir kämpfen für die Einführung der elektronischen Stimmabgabe in den nächsten paar Jahren.

swissinfo.ch: Dass es bei den Eidgenössischen Parlamentswahlen im Oktober jetzt kein E-Voting geben wird, enttäuscht und frustriert auch viele Auslandschweizerinnen und -schweizer. Was nun?

R.G.: In Französisch sagt  man: reculer pour mieux sauter (auf Deutsch sinngemäss etwa: neuen Anlauf nehmen, N.d.R.). Der Auslandschweizer-Rat wird über eine Resolution diskutieren, welche die Regierung auffordert, sich voll und ganz hinter neue Anstrengungen zur Entwicklung eines neuen E-Voting-Systems mit verbesserten Sicherheitsmechanismen zu stellen.

Wir erwarten, dass die Regierung die nächsten politischen Schritte im Jahr 2020 vorstellen wird, wie sie im Juni zugesichert hat.

Mit Blick auf die Parlamentswahlen im Oktober appellieren wir an die kantonalen und lokalen Behörden, die Stimmzettel und Informations-Broschüren so rasch als möglich und wo immer möglich per E-Mail zu versenden. Dies wird das Problem zwar nicht ganz lösen, kann aber helfen.

Die Bemühungen der ASO laufen auf zwei Schienen: Am Kongress in MontreuxExterner Link erhalten alle politischen Parteien sowie die Kandidatinnen und Kandidaten eine Plattform, um sich und ihre politischen Vorstellungen der Auslandschweizer-Gemeinschaft direkt vorzustellen.

Zudem werden wir sicherstellen, dass diese Informationen auch über elektronische Medien verbreitet und so weltweit zugänglich sein werden, unter anderem über die Schweizer Revue, aber auch über unsere Facebook- und Twitter-Konten.

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(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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