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Libyen-Krise: Schlechte Noten für den Bundesrat

Unter Beschuss: Die Bundesräte Maurer, Merz und Calmy-Rey. Reuters

Die Schweizer Regierung habe in der Libyen-Krise nicht als Kollektiv agiert und nicht nahe genug zusammengearbeitet. Zu diesem Schluss kommt ein parlamentarischer Kontrollausschuss.

Als unzureichend beschreibt die Geschäftsprüfungs-Kommission des Ständerats (GPK-S) in ihrem Bericht über das “Verhalten der Bundesbehörden in der diplomatischen Krise zwischen der Schweiz und Libyen” den Informationsfluss zwischen den verschiedenen Ministerien.

Zudem hätten mehrere Bundesratsmitglieder ihre Kompetenzen überschritten.

Der GPK-S obliegt die Aufsicht über die staatlichen Sicherheits- und Nachrichtendienste.

Sie ist der Ansicht, das schweizerische System verlange von der “Kollegialregierung von den einzelnen Mitgliedern des Bundesrates, dass sie sich nicht nur an das Recht halten, sondern auch, dass sie den Geist der Kollegialität beachten.”

Die Kommission stellt weiter fest, “dass sich ab Ende August 2009 ein Klima des Misstrauens innerhalb des Gesamtbundesrates breitmachte”.

Einer der eklatantesten Fehler wurde nach Ansicht der GPK-S von Bundespräsident Hans-Rudolf Merz mit der Unterzeichnung eines Abkommens mit Libyen begangen – dies ohne die Erlaubnis des Gesamtbundesrats.

Ein weiterer war die Planung einer Undercover-Operation zur Befreiung der beiden Schweizer Geschäftsleute Max Göldi und Rachid Hamdani aus ihrem Hausarrest in der libyschen Hauptstadt Tripolis.

Merz reiste nach Libyen, um über die Befreiung der beiden Schweizer Geiseln zu verhandeln und unterzeichnete einen Vertrag und entschuldigte sich bei Libyen für die vorübergehende Inhaftierung von Staatspräsident Muammar Gaddafis Sohn Hannibal und dessen Frau, da diese ihre Hausangestellten in Genf misshandelt hätten.

Merz hatte auch eine Vereinbarung unterzeichnet zur Gründung eines internationalen Tribunals, das die Umstände der Verhaftung von Hannibal Gaddafi prüfen sollte.

Spannungen

Der Bericht geht auch auf die Spannungen zwischen Merz und dem Aussenministerium von Micheline Calmy-Rey ein. Die GPK-S fordert eine Klärung der Kooperationswege der eidgenössischen und kantonalen Behörden. Gefordert wird auch ein besserer Austausch über aussenpolitische Themen.

Der Fall war nämlich noch komplizierter geworden, als eine Genfer Zeitung Polizeifotos von Gaddafis Verhaftung veröffentlichte.

Die GPK-S verweist auch auf die unzureichende Zusammenarbeit zwischen dem Aussen- und Finanzministerium über die geplanten Exfiltrations-Operationen, um die Geiseln nach Hause zu bringen.

“Weder die Vorsteherin des federführenden EDA [Aussenministerium]noch die beiden Vorsteher des [Verteidigungsministeriums] VBS [Samuel Schmid und der heutige Bundesrat Ueli Maurer] erachteten es damals als notwendig, das Bundesratskollegium – und vorgängig den Sicherheitsausschuss des Bundesrates (SiA) – über die Aktivitäten ihrer Departemente im Hinblick auf eine Exfiltration der beiden Schweizer Bürger zu informieren. Der Bundesrat fällte somit nie einen Grundsatzentscheid für eine Planung oder sogar für eine allfällige Durchführung einer Exfiltration”, steht im Bericht.

Die GPK-S hat eine Liste mit 14 Empfehlungen veröffentlicht und bittet die Regierung, bis April 2011 dazu Stellung zu nehmen. Sehr wichtig ist der Kommission, dass die Regierung bessere Massnahmen zur Gewährung der Geheimhaltung trifft.

Reaktionen: “Amateurhaft”, “Kompetenzen überschritten”

Gabi Huber, Fraktionschefin der Freisinnigen Partei (FDP.Die Liberalen) übt scharfe Kritik am damals amtierenden Bundesrats-Gremium. Trotz grosser Beraterstäbe habe es an Vertrauen, Koordination und Informationen gefehlt.

Huber attestierte ihrem Parteikollegen, alt Bundesrat Hans-Rudolf Merz, er hätte “ohne bösen Willen gehandelt”. Trotz der Fehler, die Aussenministerin Micheline Calmy-Rey begangen habe, erwartet Huber, dass diese nächste Woche trotzdem zur Bundespräsidentin für das Jahr 2011 gewählt werden wird.

Auch der Parteipräsident der Grünen, Ueli Leuenberger, geht davon aus, dass Calmy-Rey als Nachfolgerin von Doris Leuthard gewählt wird, wenn auch mit einem schlechten Resultat. Überhaupt habe sich der Bundesrat in der Affäre Gaddafi “amateurhaft” verhalten.

Christophe Darbellay, Präsident der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP), attestiert alt Bundesrat Merz keine bösen Absichten – jedoch grosse Naivität. Zudem habe dieser seine Kompetenzen als Bundesrat klar überschritten.

Auch die Sozialdemokratische Partei (SP) ist der Ansicht, dass der damalige Bundespräsident Merz während der schwierigen Phase das nötige Fingerspitzengefühl habe vermissen lassen und keine Führungsqualitäten gezeigt hätte.

Demgegenüber fährt die Schweizerische Volkspartei (SVP) vor allem der Sozialdemokratin Micheline Calmy-Rey an den Karren: Man werde sie zur Bundespräsidentin wählen, obwohl sie nach Parteichef Toni Brunner in der Libyen-Krise “versagt” habe.

“Sie hat ihre Kompetenzen überschritten und darüber hinaus die Landesregierung nicht ins Bild gesetzt”, bilanzierte er. Der Bericht zeige auch, dass im Bundesrat während des Konflikts mit Libyen Führungslosigkeit geherrscht hätte.

Die Affäre begann, nachdem Hannibal, Sohn des libyschen Staatschefs Muammar Gaddafi, im August 2008 in Genf wegen Verdachts auf Misshandlung seiner Hausangestellten in Untersuchungshaft gesetzt wurde.

Kurz darauf wurden in der libyschen Hauptstadt Tripolis zwei Schweizer Geschäftsmänner festgehalten.

Trotz eines Besuchs des damaligen Schweizer Bundespräsidenten Hans-Rudolf Merz 2009 in Tripolis wurde den beiden Schweizer Geiseln nicht erlaubt, Libyen zu verlassen.

Im Februar 2010 erhielt eine der beiden Geiseln ein Ausreisevisum, während der zweite wegen angeblicher Visavergehen ins Gefängnis gesteckt wurde.

Die zweite Schweizer Geisel konnte nach einer Mediation durch die EU im Juni 2010 heimkehren, begleitet von Aussenministerin Calmy-Rey.

Die Schweizer Landesregierung (Bundesrat) entscheidet als Kollegialbehörde im Kollektiv.

Jedes der sieben Regierungsmitglieder, ob Minister oder Bundespräsident, hat eine Stimme und teilt die Verantwortung für Regierungs-Entscheide.

Die Minister werden vom Parlament für vier Jahre gewählt.

Die nächsten Wahlen stehen im Dezember 2011 an, nach den Parlamentswahlen vom Oktober 2011.

(Übertragung und Adaption aus dem Englischen: Etienne Strebel)

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