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Pragmatische Zusammenarbeit statt Deutschenhetze

Andreas Netzle, Stadtammann von Kreuzlingen, zeigt, wo der Grenzzaun verlief. swissinfo.ch

In der Grenzstadt Kreuzlingen sind 20 Prozent der Bevölkerung Deutsche, der Ausländeranteil beträgt fast 50 Prozent, weit mehr als in der Wirtschafts-Metropole Zürich. Obwohl es Ressentiments gegen Deutsche gibt, ist man von einer Polemik weit entfernt.

Die Städte Kreuzlingen und Konstanz am Bodensee bilden geografisch eine Einheit.

Wenn man über das Gebiet fliegt, ist die Grenze zwischen dem deutschen Konstanz und dem schweizerischen Kreuzlingen nicht erkennbar.

“In der Praxis und im alltäglichen Leben spielt die Grenze aber durchaus eine Rolle”, sagt Andreas Netzle, der Stadtammann von Kreuzlingen. Das heisse aber nicht, dass man nicht miteinander arbeiten könne.

“Ich verstehe die beiden Städte als Partner, die ihre Eigenständigkeit bewahren wollen. Im Grossen und Ganzen sind wir aber auf eine gute Zusammenarbeit angewiesen”, betont Horst Frank, der Oberbürgermeister von Konstanz.

Die beiden “Stadtoberhäupter” treffen sich regelmässig und arbeiten pragmatisch zusammen. Der Umgang der Nachbarstädte miteinander hat jahrhundertealte Tradition.

Früher boten die Bauern aus den Dörfern, die später zum Ort Kreuzlingen wurden, ihre Waren auf dem Markt in Konstanz feil, die Konstanzer bauten auf Schweizer Seite ihre Herrschaftshäuser. Man verstand sich als eine Region.

“Deutsche Welle”

Durch die beiden Weltkriege kam es zur Trennung, die Grenze führte mitten durch die Stadt. Der Grenzzaun wurde erst 2007 abgebaut. Kreuzlingen wuchs nach dem Krieg zu einer Stadt und zählt heute 19’000 Einwohner, darunter über 4000 deutsche Staatsangehörige.

Seit der Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU vor fünf Jahren hat der Zustrom von Deutschen in den Kanton Thurgau und im Speziellen nach Kreuzlingen stark zugenommen. Denn in der Schweiz sind die Löhne höher und die Steuern tiefer.

“Das führt schon zu Ressentiments gegen Deutsche, auch in Kreuzlingen”, sagt der Konstanzer Oberbürgermeister. “Mit der Zuwanderung schnellen die Mieten und Grundstückpreise in die Höhe, das führt zu Diskussionen.”

Kreuzlingen habe Erfahrung im Umgang mit einem hohen Ausländeranteil, sagt der Stadtammann. “Das liegt uns quasi in den Genen.” Von Aversionen gegen Deutsche will er nicht sprechen, “aber dieser starke Anstieg in so kurzer Zeit würde überall zu Problemen führen”.

Spürbar sei die Dominanz der Deutschen etwa in den Neubauten, wo die Neuzuzüger aus Deutschland die Mehrheit bildeten. “Das ist gewöhnungsbedürftig.”

Integration für alle

Netzle erwartet von den Deutschen, dass sie sich integrieren: “Sie sind nicht a priori integriert, nur weil sie Deutsch sprechen. Sie müssen etwas dafür tun, an Aktivitäten und in Vereinen mitmachen. Und ihre Kinder in Kreuzlingen zur Schule schicken.”

Was sie häufig nicht tun: Ein paar hundert Kinder deutscher Eltern, die in der Bodensee-Region wohnen und arbeiten, gehen in Deutschland zur Schule. Sei das, weil die Übertrittsquote in höhere Schulen dort höher ist, sei es, weil sich die Auslanddeutschen nicht ganz auf die Schweiz einlassen wollen.

“Dafür hätten wir gerne einen Ausgleich, ein Schulgeld, was von Schweizer Seite aber abgelehnt wird”, moniert der Konstanzer Oberbürgermeister.

Der Kreuzlinger Stadtammann sieht das anders: “Wir gehen davon aus, dass man die Kinder am Wohnort zur Schule schickt. Das ist besser für die Integration der Eltern wie auch der Kinder. Ansonsten führen sie ein Parallelleben.”

Netzle kann das Anliegen seines deutschen Amtskollegen zwar verstehen. “Aber das ist nicht unser Problem. Baden Württtemberg müsste das Gesetz ändern und den Grenzorten die Möglichkeit geben, Schulgeld von Deutschen einzuziehen, die in der Schweiz wohnen.”

Politische Partizipation

Immer wieder Thema ist auch die Forderung nach politischer Mitbestimmung der Ausländer, deren Anteil in der Schweizer Grenzstadt bei über 48% liegt. Eine Motion von zwei Kreuzlinger Kantonsräten verlangte für die Gemeinden die Möglichkeit, auf kommunaler Ebene das Ausländerstimmrecht einzuführen. Das Thurgauer Kantonsparlament lehnte den Vorstoss ab.

Für den Stadtammann ist fraglich, ob ein Stimmrecht für Ausländer in Kreuzlingen zur Zeit überhaupt Chance hätte. “Gewisse Kreise haben Angst, dass die Ausländer dann alles mit uns machen könnten. Als wären sie eine homogene Gruppe.”

Die Situation, dass nur gut die Hälfte der Bevölkerung abstimmen dürfe und nur ein Teil davon an die Urne gehe und somit ein kleiner Teil die Geschicke lenke, sei schon speziell, sagt Netzle. “Mit diesem Thema müssen wir uns auseinandersetzen. Prinzipiell muss man sich schon fragen, ob das ein gutes Zeichen ist.”

Aus diesem Grund hat Kreuzlingen im Januar 2008 einen Ausländerbeirat geschaffen. Diese beratende Kommission der Stadtexekutive hat zum Ziel, die Sicht und Stimme der Ausländer bei relevanten Fragen einfliessen zu lassen.

Diesem Beirat, den so genannten “Vereinten Nationen von Kreuzlingen”, gehören 20 Vertreter aus 20 Nationen an. Netzle sieht darin ein Instrument, um “den Druck auf Mitbestimmung aufzufangen”.

Alles braucht seine Zeit

Stadtammann Netzle weiss, dass gegenüber den Deutschen in der Gegend noch immer eine gewisse Skepsis herrscht, auch wenn man eng beieinander lebt, über die Grenze einkaufen und in den Ausgang geht. Er kennt die schmerzhafte Episode der Geschichte, blickt aber nach vorn und will die anstehenden Probleme angehen und Lösungen suchen.

“So wie man das auch mit anderen Nachbargemeinden macht.” Die Zusammenarbeit zur grossen Nachbarin bezeichnet er als sachlich, freundschaftlich und eingespielt.

Oberbürgermeister Horst Frank ist überzeugt, dass “uns mehr eint als trennt. Aber ich weiss, dass zwei Weltkriege auch in den Köpfen einen Zaun gebaut haben. Es wird noch einige Jahre dauern, bis wir zur Normalität zurückkommen können”.

Gaby Ochsenbein, Kreuzlingen/Konstanz, swissinfo.ch

Die Grenzstadt am Bodensee und Hauptort des Kantons Thurgau hat 19’000 Einwohnerinnen und Einwohner.

48,6% der Bevölkerung sind ausländischer Nationalität.

Der Anstieg der Bevölkerung während der letzten Jahre ist auf den Zuzug von deutschen Einwohnerinnen und Einwohnern zurückzuführen.

In Kreuzlingen lebten Ende 2009 4048 Personen mit deutschem Pass, das sind 21,3% der Kreuzlinger Bevölkerung.

Zudem gibt es in der Stadt am Bodensee 1090 deutsche Grenzgänger.

Die Arbeitslosenrate beträgt 4%.

Die Touristenstadt am Bodensee hat rund 80’000 Einwohnerinnen und Einnwohner.

In Konstanz leben lediglich ein paar hundert Personen aus der Schweiz.

Der Ausländeranteil beträgt ca. 12%.

Die Arbeitslosenquote liegt bei 4,4%.

Kreuzlingen und Konstanz bilden zusammen eine Agglomeration mit rund 100’000 Einwohnerinnen und Einwohnern.

Die beiden Städte kooperieren auf verschiedenen Ebenen, so auf dem Gebiet von Kultur und Bildung, bei Verkehrsfragen oder der Agglomerations-Planung.

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