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“Mehr Fluglärm für die Schweiz”

Morgens und Abends ist über der Schweiz mit mehr Fluglärm zu rechnen. Keystone

Nach elf Jahren Streit und Diskussionen um Fluglärm beim Anflug auf den Flughafen Zürich Kloten haben sich die Schweiz und Deutschland geeinigt. Die eingegangenen Konzessionen sind für die Schweizer Presse allerdings ein hoher Preis.

“Kein Sieg, sondern eine Hypothek”, “Ein Abkommen, das den Schweizer Himmel verändert”, “Konsternation über den Kompromiss”, “Verteilen ist kein Kompromiss”. So und ähnlich tönen am Dienstag die Kommentare in den Schweizer Zeitungen über den neuen Staatsvertrag im Fluglärmstreit zwischen der Schweiz und Deutschland.

Der Staatsvertrag bringe dem Flughafen Zürich Kloten “nicht mehr Flexibilität, sondern ein engeres Korsett. Darunter zu leiden hat die Zürcher Bevölkerung”, schreibt die Kommentatorin des Zürcher Tages-Anzeigers.

Verkehrsministerin Doris Leuthard habe sich am Montag bemüht, den Staatsvertrag “bestmöglich darzustellen – aber wenn das höchste der Gefühle für eine Politikerin im Begriff ‘passable Lösung’ besteht, sagt das alles.”

Direkte Auswirkung des Staatsvertrags: “Die Anwohner des Flughafens werden mit deutlich mehr Lärm ausgerechnet am frühen Morgen und nach Feierabend zu rechnen haben.”

2002 hätte das Schweizer Parlament es auf der Hand gehabt, einen wesentlich besseren Vertrag anzunehmen, so die Analyse. Nun habe man eine Lösung gefunden, die nicht nur gegenüber jenem abgelehnten Staatsvertrag, sondern auch gegenüber der heutigen Praxis “ein klarer Rückschritt” sei.

“Kommt hinzu, dass der Flughafen mit diesem Vertrag gezwungen ist, die Pisten auszubauen – egal ob sich das aus wirtschaftlicher Sicht lohnt oder nicht. Kommt der Ausbau nicht, ist der Vertrag gescheitert. Auch das ist eine klare Verschlechterung gegenüber dem Staatsvertrag von 2002”, so der Tagi.

Schwierige Bürde für Zürcher Stimmvolk

Letztlich habe Leuthard “keinen Sieg errungen, sondern sich eine schwere Hypothek aufgehalst”. Trotzdem habe sie mit ihrer Einschätzung “sicher recht”, dass eine Ablehnung des Staatsvertrags “fatal” wäre. Es genüge, an die einseitige Verordnung Deutschlands zu denken, die nach dem Nein von 2002 erlassen wurde. “Alles, was nach einem weiteren Nein käme, wäre noch viel schlechter.”

Mit der Verpflichtung eines Ausbaus zweier Pisten erhalte das Stimmvolk des Kantons Zürich “einen Spielball in die Hände”, schreibt die Limmattaler Zeitung. “Wird ein Pistenausbau abgelehnt, dürfte die Schweiz die Abmachungen mit Deutschland nicht einhalten können, der Staatsvertrag wäre am Ende.”

Leuthard habe die Flexibilität des Flughafens zwar “teuer erkauft”. “Doch scheitert das Abkommen, verliert Deutschland wenig, die Schweiz hingegen einen wichtigen wirtschaftlichen Motor. Es steht also noch immer sehr viel auf dem Spiel.”

Achtung AKW!

Auch die Neue Zürcher Zeitung ist der Meinung, der Preis für einen “Erfolg, der Rechtssicherheit bringen kann”, sei hoch. Pragmatisch betrachtet kämen weder der Kanton Zürich noch die Schweiz um eine Zustimmung zum Staatsvertrag herum. “Eine erneute Eskalation des Konflikts würde einseitige Verschärfungen nach sich ziehen, die dem Flughafen ans Lebendige gingen.”

Klar ist für die NZZ, dass eine Verteilung des Fluglärms “nicht sinnvoll” ist. “Auch in der Schweizer Diskussion gilt, dass sich die Lösung am Ziel orientieren muss, dank gezielter Kanalisierung möglichst wenig Menschen zu belasten. Wenn dies mit dem gekröpften Nordanflug erreicht werden kann, muss auch der Aargau über seinen Schatten springen.”

Diese Aussichten stossen allerdings im Kanton Aargau auf wenig Gegenliebe. In der Aargauer Zeitung erinnert der Kommentator “präventiv” daran, “dass der Aargau heute schon solidarisch viel Fluglärm und etliche weitere Lasten trägt”.

Und er fährt noch schwereres Geschütz auf im Kampf gegen mehr Fluglärm: “Losgelöst von der Aargauer Belastung wäre der gekröpfte Nordanflug angesichts der zu überfliegenden Atomanlagen auch viel zu gefährlich – ob auf Sicht oder mit Satellitennavigation.”

“Mehr Spielraum”

“Der Staatsvertrag, der den Schweizer Himmel verändert”, schreibt die Westschweizer Le Temps. Auch sie sieht “straffe Diskussionen” zwischen den Kantonen voraus, die das Mehr an Fluglärm aufnehmen müssten.

Etwas kühleren Kopf bewahrt man im Kanton St. Gallen, denn eine Alternative zum neuen Staatsvertrag sei nicht “im Anflug”, so das St. Galler Tagblatt.

“Deutschland ist nicht nur von der Limitierung auf jährlich 80’000 Nordanflüge abgerückt, die den Flughafen Kloten stranguliert hätte. Unsere nördlichen Nachbarn haben sich gleich von jeder Obergrenze verabschiedet. Das lässt dem wirtschaftlich so bedeutenden Flughafen zumindest moderaten Entwicklungsspielraum.”

Nun stehe aber die innenpolitische Debatte an über die Verteilung jener 20’000 Flugbewegungen, die von Deutschland in die Schweiz umgelagert werden müssten. “Potenzielle Überfluggebiete wie der ländliche Kanton Thurgau sind aber gut beraten, in eigener Sache politisch endlich durchzustarten. Bevor sich die Miteidgenossen als grössten gemeinsamen Kompromiss darauf einigen, den gesamten Fluglärm dorthin zu transportieren, wo am wenigsten Menschen sind.”

Das Fazit für den Tages-Anzeiger ist, “dass die Schweiz mit ihrer Kraftmeierei nichts erreicht, sondern jedes Mal grandios scheitert. Vielleicht lernen die Politiker, die sich gern unnachgiebig zeigen, dieses Mal daraus. Dann hätte der Fluglärmstreit wenigstens etwas Gutes gebracht”.

Noch keine Reaktion gab es vom Standortkanton Zürich. Der Zürcher Regierungsrat will sich inhaltlich noch nicht zum Staatsvertrag äussern.

Ein Sprecher der Zürcher Regierung sagte, man wolle die Vereinbarung zuerst analysieren und dann bis spätestens Ende dieser Woche kommunizieren.

Der deutsche Verkehrsminister Peter Ramsauer wertete den vereinbarten Staatsvertrag zwischen Deutschland und der Schweiz als “positives Zeichen für die ganze Region”.

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