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Prosit Neujahr – eine schwierige Zeit

Das Spiel unter Gleichgesinnten: Im alkoholfreien Treffpunkt Azzurro sind schon manche Freundschaften entstanden. Azzurro

Wie feiern ohne Champagner oder Wein? Für viele Alkoholsüchtige sind die feuchtfröhlichen Festtage eine grosse Herausforderung.

So auch für die ehemalige Alkoholabhängige Ruth C. Im Treffpunkt Azzurro vom Blauen Kreuz findet sie als Mitarbeiterin Anerkennung und Halt.

Silvester ist für die 44-jährige Ruth C. ein grosses Problem. “Ich liebe Champagner. Obwohl ich weiss, dass ich das nie mehr trinken darf, werde ich am 31. Dezember grosse Mühe haben”, bekräftigt sie gegenüber swissinfo.

Ruth C. ist eine der 15 Mitarbeitenden des alkoholfreien Trefflokals Azzurro in Bern. Das Azzurro ist vor drei Jahren vom Blauen Kreuz gegründet worden als Nachsorgeprojekt im legalen Suchtbereich. Hier treffen sich täglich Menschen, die suchtgefährdet sind. Zum Essen, das nur sechs Franken kostet, zum Jass- oder Lottospielen, zu Filmvorführungen, zum Beisammensein. Die Besucherzahl schwankt jeweils zwischen 8 und 25.

Als Arbeitsort für 15 suchtgefährdete Mitarbeitende bietet das Lokal zudem eine geschützte Beschäftigungs-Möglichkeit in der Küche, im Service, in der Reinigung, im Garten und im Unterhalt an.

“Sehr oft haben Suchtgefährdete alles verloren, das heisst Arbeitsplatz, Freundeskreis und Familie. Hier haben sie einen Ort, wo sie regelmässig zur Arbeit kommen und Gleichgesinnten begegnen können”, erzählt die Sozialarbeiterin und Ko-Leiterin des Azzurro, Sieglinde Gertig, im Gespräch mit swissinfo.

“Weihnachten ganz normal”

Auch an diesem Heiligabend war das Azzurro geöffnet. Wie an allen anderen Tagen von 18 bis 22 Uhr. “Es war ein normaler Abend, nur das Essen war etwas festlicher”, so Gertig. “Unsere Gäste wollten nicht, dass dieser Tag besonders hervorgehoben wurde, weil viele einsam sind und sich daran erinnern, wie sie Weihnachten früher mit der Familie gefeiert haben.”

Silvester allerdings wird im Azzurro gefeiert, von 19 Uhr bis nach Mitternacht, mit alkoholfreiem Schaumwein, speziellem Essen, kleinem Feuerwerk, einer Filmvorführung, mit Musik und Spielen.

“Die Herausforderung für viele ehemalige Alkoholabhängige ist, dass sich an den Festtagen ihre Isolation, Einsamkeit und finanzielle Situation sehr bemerkbar macht. Sie spüren ganz klar wieder die Ausgrenzung”, betont die Sozialarbeiterin. “Gerade an diesen Tagen wird überall sehr viel Alkohol getrunken, und das ist für Suchtgefährdete eine äusserst schwierige Situation.”

Ruth C. über ihre Alkoholsucht



Ruth C. hatte schon als 20-Jährige Probleme mit dem Alkohol gehabt. Schwer alkoholabhängig sei sie aber erst viel später geworden. “Da wurde ich meiner Sucht so richtig bewusst, und als Reaktion darauf trank ich noch mehr”, erzählt sie. “Am Morgen konnte ich ohne Alkohol nicht mehr aufstehen. Man hat kein Mass. Man trinkt für die Wirkung, nicht für den Genuss.”

Sie arbeitete als Sekretärin in leitender Stellung und fühlte sich oft überfordert. Es kamen Beziehungsprobleme hinzu. “Ich trank heimlich, lange Zeit wusste niemand etwas davon.”

Bis der Arbeitgeber es doch merkte und ihr ein Ultimatum stellte: Sie wurde angehalten, eine dreimonatige Entziehungskur in einer therapeutischen Klinik zu machen. Aber nach dieser Kur kam es wieder zum Absturz: “Man weiss genau, was man tut. Aber der Drang nach Alkohol ist so gross, man hat nur noch das Trinken im Sinn und will den Rausch geniessen. Erst nachher kommen die schweren Schuldgefühle.”

Nach einem weiteren Entzugsaufenthalt und darauffolgendem Rückfall verlor Ruth C. ihre Arbeitsstelle. “Einen Monat nach der Kündigung kam bei einem Glas Wein der so genannte Klick”, erinnert sie sich. “Für mich war es wie eine Offenbarung. Zum ersten Mal spürte ich, dass ich nicht mehr wollte und nicht, dass ich nicht mehr sollte. Das war der Unterschied.” Heute ist sie stolz auf ihre Vergangenheit: “Diese Erfahrungen haben mir sehr viel gebracht.”

Seit sechs Monaten arbeitet Ruth C. im Azzurro. “Bei meiner Tätigkeit wächst mein Vertrauen in mich wieder. Und ich kann mit meiner Arbeit anderen eine Freude machen”, sagt sie. “Auch wenn es hier manchmal zu Spannungen kommt, ist es gut, dass es eine solche Institution gibt, wo man für wenig Geld etwas essen und Gleichgesinnten begegnen kann.”

Mulmiges Gefühl vor Silvester



“Mein ganzes Leben lang habe ich an Silvester immer Champagner getrunken. Es ist ein Ritual, eine Tradition, die sehr tief in mir verankert ist”, erzählt Ruth C. Jetzt hat sie wieder ein mulmiges Gefühl, so kurz vor Neujahr.

“Ich muss aus dieser Verankerung herausfinden und einen neuen Weg einschlagen, das heisst alkoholfreien Champagner trinken und kein Verlangen nach dem Rausch haben.” Dieses Verlangen ist bei ihr manchmal immer noch da. “Aber heute weiss ich, dass es nichts bringt.”

swissinfo, Alina Kunz Popper

Im Jahre 2002 wurde das Azzurro 4870 mal besucht, zur Hälfte von Menschen mit psychischen Schwierigkeiten und/oder mit Suchtproblemen.
2574 Mahlzeiten sowie 7755 Getränke wurden serviert.
40% der Gäste sind von Arbeitslosigkeit betroffen.
Azzurro bietet auch Räumlichkeiten für Selbsthilfe-Gruppen an.

Übers Blaue Kreuz blah,blah..

Das Blaue Kreuz ist ein international tätiges Hilfswerk.

Es bietet Alkoholkranken und ihren Angehörigen Beratung an und leistet Suchtprävention.

Als Teil des diakonischen Werkes der Kirchen ist es politisch und konfessionell unabhängig.

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