Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Stirbt die Sprache der Bergler aus?

Eine Kartonsammlung ist auf Rätoromanisch und Deutsch angeschrieben.
Rätoromanisch entstand durch eine Vermischung von Volkslatein mit keltischen und rätischen Sprachen. Keystone

Die Schweizer lieben die Sprache ihrer Bergler. Unglaubliche 92 Prozent befürworteten in einer nationalen Volksabstimmung 1938 die Anerkennung des Rätoromanischen als vierte Landessprache. Trotzdem ist die Sprache aus dem Kanton Graubünden gefährdet.

Der italienische Diktator Benito Mussolini war schon in den 1920-er Jahren der Ansicht, Rätoromanisch sei ein lombardischer Dialekt und der Kanton Graubünden gehöre deshalb richtigerweise zu ItalienExterner Link.

Die Rätoromanen selbst hielten nicht viel von ihrer angeblich italienischen Herkunft: “Ni Italians, ni Tudaischs! Rumantschs vulains restar!”, brachte es der Dichter Peider LanselExterner Link auf den Punkt (“Weder Italiener noch Deutsche! Rätoromanen wollen wir bleiben!”).

Tatsächlich entstand Rätoromanisch wie andere romanische Sprachen aus der Vermischung von Volkslatein mit lokalen Sprachen – in diesem Fall mit keltischen und rätischen Sprachen. Das Verhältnis des Schweizer Rätoromanisch zum italienischen Dolomitenladinisch und Friaulisch ist in der Sprachwissenschaft bis heute umstritten.

Eine Grafik des Kantons Graubünden, die zeigt, wo welches Rätoromanische Idiom gesprochen wird.
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Rätoromanisch gilt laut Atlas der gefährdeten Sprachen der UNESCOExterner Link als gefährdete Sprache. Während in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die Mehrheit der Bündner Bevölkerung Rätoromanisch sprach, sind es heute noch etwa ein Fünftel. In der ganzen Schweiz sprechen noch etwa 60’000Externer Link Menschen Rätoromanisch, davon 35’000 als Hauptsprache. Das entspricht etwa 0,5 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Verstehen können die Sprache nach eigenen Angaben etwa 100’000 Menschen in der Schweiz.

Fehlende Basisdemokratie rächt sich in der Schweiz

Seit Jahren tobt ein Streit darüber, welches Rätoromanisch im öffentlichen Leben verwendet oder an den Schulen unterrichtet werden soll: Eines der fünf Idiome oder die Kunstsprache “Rumantsch Grischun”? Bund und Kanton verwenden die Kunstsprache. Auch die romanische Dachorganisation (Lia RumantschaExterner Link) setzt sich für das Rumantsch Grischun ein. Sie stützte den Kanton, als dieser 2003 aus Spargründen beschloss, Lehrmittel nur noch auf Rumantsch Grischun herauszugeben. Die Dachorganisation gilt aber als demokratisch schwach legitimiert. Und in der Schweiz rächt sich das schnell: Die romanischsprachige Bevölkerung ist wenig überzeugt vom Rumantsch Grischun und wehrte sich mit Initiativen und GerichtsverfahrenExterner Link. Es wurde der Verein “Pro IdiomsExterner Link” gegründet, der die Gegenbewegung anführt. Inzwischen wird an einigen Schulen wieder ein Idiom unterrichtet.

Warum stirbt die Sprache aus?

Der erste Grund, warum Rätoromanisch bedroht ist, liegt in der Zerstückelung der Sprache: Wegen der Abgeschiedenheit der Täler und unterschiedlicher Religionen (das Engadin wurde während der Reformation mehrheitlich protestantisch, die übrigen rätoromanischen Regionen blieben mehrheitlich katholisch) entwickelten sich über die Jahrhunderte zahlreiche rätoromanische Dialekte und fünf (!) verschiedene regionale Schriftsprachen (IdiomeExterner Link). Dies erschwert den Erhalt der Sprache. Deshalb wurde 1982 künstlich eine gemeinsame Schriftsprache entwickelt, das “Rumantsch Grischun”. Diese Kunstsprache soll das Überleben des Rätoromanischen sichern, ist aber hoch umstritten (siehe Box rechts).

Ein weiterer Grund ist geographischer Natur: Rätoromanisch wird in besonders alpinen Gebieten gesprochen, in denen es wenige Berufsmöglichkeiten gibt. Die Folge: Junge Menschen wandern in die Deutsch- oder Westschweiz ab. Dort assimilieren sie sich.

Umgekehrt müssen zuziehende Deutschschweizer kein Rätoromanisch lernen, um sich in den romanischsprachigen Dörfern zu integrieren: “Jeder Rätoromane ist gleichzeitig auch ein Deutschschweizer”, erklärt der Rätoromane Corsin BisazExterner Link, der als Jurist am Zentrum für Demokratie Aarau zum Thema “Rätoromanische Sprache und direkte DemokratieExterner Link” geforscht hat. Die meisten Rätoromanen sind perfekt zweisprachig.

Dabei wäre es laut Bisaz zur Rettung der Sprache durchaus hilfreich, wenn Neuzuzüger Rätoromanisch lernen würden. “Portugiesische Saisonniers im Gastgewerbe gehören beispielsweise zu den wichtigsten Bewahrern des Rätoromanischen”, sagt Bisaz. Weil Portugiesisch und Rätoromanisch recht ähnlich sind, lernen und sprechen Portugiesen lieber Rätoromanisch als Deutsch.

Von Bauernsprache zu modernem Kommunikationsmittel

Hat Rätoromanisch unter diesen Umständen überhaupt eine Zukunft oder wird die Sprache aussterben? Anna-Alice Dazzi, Linguistin beim rätoromanischen Radio und Fernsehen RTR, sagt: “Das Aussterben des Rätoromanischen wurde schon vor über hundert Jahren prognostiziert.” Es sei eine Tatsache, dass immer mehr Kleinsprachen stürben oder gefährdet seien, aber: “Rätoromanisch lebt noch!”

Nicht nur das, sondern das Image der Sprache hat sich auch verbessert. Rätoromanisch galt lange als Bauernsprache. “Vor 20 Jahren schämte man sich, Rätoromanisch zu sprechen”, erzählt Bisaz. Und Dazzi bestätigt: “Der Begriff ‘Bauernsprache’ wurde immer wieder gebraucht, um das Rätoromanische beziehungsweise deren Sprecher zu diskriminieren.” Der Begriff an sich sei aber nicht falsch, weil das rätoromanische Sprachgebiet bis nach dem Zweiten Weltkrieg mehrheitlich Agrargebiet gewesen sei. “Die Sprache war entsprechend stark von der Landwirtschaft geprägt”, erklärt Dazzi. “Viele Ausdrücke für neue Lebensbereiche fehlten darum. Nach der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Sprache stark weiterentwickelt und verfügt heute über einen breit ausgebauten Wortschatz.”

Viele junge rätoromanische Kulturschaffende verwenden heute bewusst ihre Sprache, um sich auszudrücken. So schreibt beispielsweise der Schriftsteller Arno Camenisch sowohl auf Deutsch als auch Rätoromanisch. Es gibt sogar eine rätoromanische Hip-Hop-BandExterner Link.

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Auch die Musikerin Bibi VaplanExterner Link singt ausschliesslich auf Rätoromanisch.

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swissinfo.ch widmet dem Rätoromanischen eine Mini-Serie. Unsere erste Frage lautet: Ist die direkte Demokratie hilfreich oder hinderlich zur Rettung der Sprache und wer soll über Rätoromanisch entscheiden dürfen?

Mehr

Rätoromanisch lernen

In der Schweiz bieten zahlreiche Sprachschulen Kurse für Rätoromanisch als Fremdsprache an. Es gibt ein elektronisches WörterbuchExterner Link der fünf Idiome und Rumantsch Grischun. Auf www.romontsch.chExterner Link finden Sie Lernprogramme, Apps und Hörproben. An den Universitäten FreiburgExterner Link, GenfExterner Link und ZürichExterner Link kann Rätoromanisch studiert werden.

So unterschiedlich sind die rätoromanischen Idiome

Deutsch: Der Fuchs war wieder einmal ausgehungert.

Rumantsch Grischun: La vulp era puspè ina giada fomentada.

Sursilvan: L’uolp era puspei inagada fomentada.

Sutsilvan: La vualp eara puspe egn’eada fumantada.

Surmiran: La golp era puspe eneda famantada.

Puter: La vuolp d’eira darcho üna vouta famanteda.

Vallader: La vuolp d’eira darcheu üna jada fomantada.

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