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Wie die alten Römer das europäische Recht prägten

Kaiser Justinien hat einen Hauptanteil daran, dass das alte Rom bis in die heutige Gesellschaft ausstrahlt. akg-images

Das römische Reich hat in der westlichen Welt unzählige Spuren hinterlassen. Der vielleicht grösste Einfluss ist im Recht festzustellen. Dieser Meinung ist Pascal Pichonnaz, Professor für römisches Recht an der Universität Freiburg.

Ist von der Hinterlassenschaft der Römer in der Schweiz und in Europa die Rede, denkt man oft an die grossen Amphitheater oder Aquädukte. In den Ländern, in denen lateinische Sprachen gesprochen werden, weisen auch diese auf die römische Vergangenheit hin.

Elemente der römischen Gesellschaft sind auch in den Sparten Kunst, Architektur, Philosophie oder Staatswesen zu finden. In einem Gebiet wiegt das römische Erbe aber besonders schwer: Im Recht.

swissinfo.ch: Das grösste römische Erbe besteht im Recht, lautet Ihre These. Wie kommen Sie darauf?

Pascal Pichonnaz: Weil das römische Recht einen sehr grossen Einfluss auf die Entwicklung des Rechts der westlichen Zivilisation hatte. Man bezieht sich noch immer darauf. Es ist kein Zufall, dass römisches Recht an unseren Fakultäten Pflichtfach geblieben ist.

Das Recht und das Latein sind zudem die einzigen originären Errungenschaften, die Rom in die westliche Kultur eingebracht hat. In den anderen Bereichen waren es gemischte Einflüsse, wie in der Philosophie und in der Architektur, wo die Römer auch griechische Strömungen aufnahmen.

swissinfo.ch: Die Römer waren nicht die einzigen, die im Altertum ein Rechtssystem entwickelten. König Hamurapi von Mesopotamien stellte einen Kodex auf, ebenso Solon, ein Staatsmann und Lyriker in Athen. Woher rührt der grosse römische Einfluss?

P. P.: Die Römer waren die ersten, die eine echte Rechtswissenschaft entwickelten. Das römische Recht ist eine Besonderheit: Damit lässt sich ein Problem in einen Satz oder zwei Sätze fassen, woraus dann eine Regel abgeleitet wird. Dies erinnert stark an das angelsächsische Recht.

Ein typisches Beispiel: Jemand verkauft einem Bauern eine Kuh. Aber das Tier ist krank und verseucht die ganze Herde des Bauern, so dass diese eingeht. Wer ist für den Schaden verantwortlich: Der Verkäufer oder der Bauer als Käufer?

Das römische Recht unterscheidet drei Fälle: Der Verkäufer wusste, dass die Kuh krank war, und ist demzufolge verantwortlich. Zweitens: Ist der Verkäufer ein Profi, der alles unternommen hat, um zu prüfen, dass die Kuh gesund ist, ist er nicht verantwortlich. Drittens: Ist der Verkäufer kein Profi, kennt sich also mit Kühen nicht aus, haftet er ebenfalls nicht.

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swissinfo.ch: Interessante Geschichte, aber wo liegt der Bezug zu heute?

P.P.: Es gibt einen, und er ist viel direkter, als man sich vorstellen könnte. Vor sechs Jahren hat sich das Bundesgericht mit einem ganz ähnlichen Fall auseinandergesetzt.

Ein Tierhändler hatte sechs Papageien importiert, die er einem Züchter mit grosser Volière für 4500 Franken verkaufte. Zuvor hatte er die Vögel in Quarantäne gehalten, um sicher zu gehen, dass sie gesund sind. Ein Papagei aber war mit einem Virus infiziert, der ausbrach, als das Tier unter Stress stand. Das Resultat: Alle Vögel in der Volière starben, zwei Mio. Franken Schaden.

In der Beurteilung bezog sich das Bundesgericht direkt auf das römische Recht. Demzufolge hätte der Verkäufer keine Schuld getragen, weil er alle nötigen Massnahmen getroffen hatte. Die Bundesrichter aber kamen nicht zum selben Schluss, entweder, weil sie das römische Recht nicht richtig verstanden hatten, oder aus versicherungstechnischen Gründen. Trotzdem zogen sie das römische Recht als Referenz heran.

swissinfo.ch: Noch ein anderes Beispiel?

P.P.: Sie können eine defekte Ware im Geschäft zurückgeben, sofern die Garantie noch nicht abgelaufen ist. Auch dieses Recht geht auf das römische Recht zurück. Es galt bereits auf den Märkten des alten Roms, bezog sich aber auf Sklaven und Tiere. Hatten diese einen Mangel, konnte der Käufer innerhalb eines Jahres den Vertrag kündigen oder zumindest eine Verminderung des Kaufpreises geltend machen. Dieses Prinzip wurde von Kaiser Justinian I. auf alle Verträge ausgedehnt, eine Regelung, die so ins Schweizer Recht übernommen wurde.

In der Antike war der grösste Teil des Schweizer Mittellandes von keltischen Stämmen bewohnt, hauptsächlich den Helvetiern.

Diese wollten Gallien erobern, um sich dort niederzulassen und so dem Druck der Germanen zu entgehen.

Ihr Vormarsch wurde 58. v.Chr. von Julius Cäsar in der denkwürdigen Schlacht bei Bibracte gestoppt. Die Helvetier mussten darauf ins Mittelland zurückkehren.

Danach wurde das heutige Territorium der Schweiz dem römischen Reich einverleibt. Das Mittelland gehörte zu Obergermanien (Germania superior), während das Tessin und Graubünden zu Rätien gehörten.

Mitte des 3. Jahrhunderts fielen Barbaren ein. Die Ermordung des Heerführers Aetius 454 leitete den Untergang der Römer ein, die römischen Truppen zogen sich nach Italien zurück.

Das Schweizer Territorium wurde den germanischen Stämmen der Burgunder und Alemannen überlassen. Erstere zivilisierten sich, wurden rasch Christen und übernahmen die galloromanische Sprache und Sitten. Letztere behielten ihren germanischen Lebensstil länger bei.

Die Römer hinterliessen in der Schweiz viele Spuren. Die wichtigsten Orte waren Aventicum (Avenches, Kt. Waadt) als Hauptort der römischen Städte und Orte im Schweizer Mittelland, Augusta Raurica (Augst, Basel-Landschaft) und Vindonissa (Windisch, Aargau).

swissinfo.ch: Das alte Rom ging 476 unter. Erstaunt es Sie, dass sein Einfluss knapp 2000 Jahre immer noch so gross ist?

P.P.: Wenn man die Geschichte studiert, versteht man umgehend, weshalb das so ist. Nach dem Untergang des Reiches blieben Reste des römischen Rechts, die parallel zum Gewohnheitsrecht der Barbaren existierten. Im römischen Reich im Osten blieb es aber völlig intakt. In der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts hat dann Justinian I. alle Rechtsgutachten der vorangehenden Jahrhunderte gesammelt (Codex Iustinianus, Kodifikation des römischen Rechts, die Red.).

Diese Sammlung wurde Ende des 11. Jahrhunderts im italienischen Bologna wiederentdeckt. Darauf fusst die Gründung der ersten Universität und der ersten Rechtsfakultät in Europa. Von da aus strahlte das römische Recht in alle Länder Europas aus, die katholisch waren. Zwischen 1265 und 1300 studierten in Bologna 225 Schweizer, bis 1320 waren es noch deren 85. So gesehen war Bologna die intellektuelle Matrix von ganz Europa.

Das Recht hat sich natürlich danach weiterentwickelt. Römisches Recht aber blieb Hauptinspirationsquelle auf dem Kontinent. In Grossbritannien war die Lage aufgrund der Splendid Isolation etwas anders. Aber der Kodex von Napoleon in Frankreich und die historische Schule von Friedrich Karl von Savigny in Deutschland stützten sich direkt darauf.

swissinfo.ch: Es war also das römische Recht, das Europa geprägt hat?

P.P.: Zweifellos. Man sagt, dass die Identität Europas auf drei Säulen ruhe: dem Christentum, der aristotelischen Philosophie und dem römischen Recht.

Der Einfluss reicht aber weit über Europa hinaus, stützten sich doch Länder wie die Türkei, China oder Japan auf die europäischen Rechtssysteme ab, die wie erwähnt stark vom römischen Recht geprägt sind. Selbst in Japan gibt es einen Lehrstuhl für römisches Recht.

(Übersetzung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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