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Rote Filme im grünen Garten

Bis 1971 fanden die Filmvorführungen im Park des Grand Hotels statt. Keystone Archive

Seit Donnerstag-Nacht ist das 55. internationale Filmfestival von Locarno im Gange. Ein Überblick zur Geschichte eines Anlasses von wachsender Bedeutung.

Das Festival von Locarno… 175’000 Zuschauerinnen und Zuschauer im Jahr 2001. Über 4’400 Berufsleute vor Ort. Acht Sektionen, davon ein anerkannter internationaler Wettbewerb. Und die Piazza Grande, mit manchmal bis zu 10’000 Personen, die sich unter dem Sternenhimmel vor einer Leinwand von 364 m² einfinden.

“Das kleinste der grossen Festivals”, wie die Locarnesi den Anlass gerne nennen, hatte nicht immer diese Dimensionen. Und eigentlich geht es auf einen Zufall zurück: In Anlehnung an Venedig organisiert Lugano nach 1941 Freilicht-Filmvorführungen. Aber die Bevölkerung von Lugano kann sich für keine feste Struktur entscheiden.

Eine Gruppe von Filmliebhabern in Locarno nutzt dies aus. Sie ergreift die Gelegenheit beim Schopf und installiert im üppigen Garten des lokalen “Grand Hotel” eine Leinwand. Das erste Filmfestival von Locarno findet am 22. August 1946 statt – einige Monate vor dem 1. Filmfestival von Cannes!

Nur ein Schaufenster oder ein Festival?

Mehrere Jahre lang schwankt der Anlass zwischen der Form eines sympathischen “Schaufensters” des (aus Nachbarschaftsgründen vorwiegend italienischen) Films und seinem Wunsch, zu einem veritablen Festival zu werden.

Leider lehnt es Bern ab, Locarno als “Anlass des nationalen Interesses” zu betrachten. Und Berner Missachtung bedeutet Finanzknappheit. 1954 erst besann sich Bern eines Besseren. Zweites grosses Problem: um ein wirkliches Festival zu sein, ist ein Wettbewerb unabdingbar. Dagegen aber sträuben sich die Filmverleiher vehement. Mehrere Versuche laufen ins Leere. Erst 1958 gibt es erstmals einen wirklichen Wettbewerb.

Zu all dem kommt ein politisches Problem: der Filmkritiker Vinicio Beretta, der 1953 zum “Sekretär” ernannt wurde, nimmt gerne Filme aus dem Osten, russische oder tschechische, ins Programm auf. Und in diesen Jahren des Kalten Krieges genügt das, um das Tessiner Festival in den (Ver-)Ruf eines “Anlasses der Roten” zu bringen, namentlich bei der Deutschschweizer Presse.

1958 – 1970, die Radikalisierung

1958 gibt es also den ersten Wettbewerb, mit goldenem und silbernem “Segel” für die Gewinner (der Leopard ist noch nicht zum Leben erwacht). Vinicio Beretta misst dem jungen Film, den Entdeckungen, viel Gewicht bei. Auch seine Nachfolger, Sandro Bianconi und Freddy Buache, bleiben bei diesem Vorgehen, aber in radikalerer Form. Unter ihrer Leitung wendet sich Locarno weniger an das “echte” Publikum als an die echten Cineasten.

1968 wird erstmals der Leopard verliehen. Aber die Filme werden nicht mehr im Garten des Grand Hotels gezeigt. Das ist kein mondäner Anlass mehr, ab jetzt findet er in dunklen Sälen statt! 1970 tritt das Tandem Bianconi-Buache zurück. Und 1971 wird das Festival auf die Piazza Grande verlegt, die einen glanzvollen Renaissance-Rahmen abgibt und zu einer richtigen Metamorphose führt.

Persönlichkeiten an der Spitze

Der Dokumentarfilmer Moritz de Hadeln (der spätere Chef der Berlinale) ist der erste Direktor des ‘neuen’ Festivals von Locarno. Er stellt die Organisation auf eine wesentlich professionellere Grundlage und versucht, im Programm ein Gleichgewicht zu finden, um sowohl das breite Publikum wie die eingefleischten Cineasten zu befriedigen. Was natürlich zu Turbulenzen führt: Die Filme “L’Empire des sens” von Oshima und “Die 120 Tage von Sodom” von Pasolini 1976 schlagen hohe Wellen. Im Jahr darauf tritt de Hadeln zurück.

In den 80er-Jahren hebt Locarno dann dank einem hervorragenden Duo richtig ab. 1981 wird der Herausgeber und Kunstsammler Raimondo Rezzonico Präsident, 1982 wird er von David Streiff abgelöst, was dem Festival nun dauerhafte Strukturen gibt.

In 10 Jahren zeigt David Streiff (heute Leiter des Bundesamtes für Kultur) vermehrt Retrospektiven, nimmt neue Filmer ins Programm auf (aus Iran, China, Taiwan, Hongkong), schafft 1988 den “Ehrenleoparden”, der die grössten Namen der 7. Kunst nach Locarno bringt, und lanciert 1991 für Kurzfilme die “Leoparden von morgen”. Während der Ära Streiff steigt die durchschnittliche Zuschauerzahl von 40’000 auf 100’000!

Auf Streiff folgt 1992 der Römer Marco Müller. Der Mann hat grosse Erfahrung im Organisieren von Festivals (er war Direktor in Turin, Pesaro, Rotterdam) und verleiht dem Festival von Locarno zusätzlichen Schwung.

Müller ist durch und durch Pragmatiker und verleiht dem Anlass eine kommerzielle Dimension, indem er einen eigentlichen Markt für Filme schafft. Der ausgebildete und passionierte Sinologe bereichert das Programm durch sein grosses Wissen über den asiatischen Film. Er ist ständig in Bewegung, verändert Strukturen, so bei den Retrospektiven (die ab jetzt aktiven Filmemachern und Themen gewidmet sind) und beim Wettbewerb (der in zwei Kategorien aufgeteilt wird, Erstlingswerke und Werke erfahrener Filmemacher). Im Jahr 2000 tritt der Mann, der von den einen verehrt und von den anderen gehasst wird, von der Bühne ab.

Eine neue Ära

2001 folgt ihm die Mailänder Journalistin Irene Bignardi nach, zusammen mit einem neuen Präsidenten, Marco Solari. Der frühere Direktor des Tessiner Tourismusbüros, der 1991 den 700. Geburtstag der Eidgenossenschaft organisiert hatte, ist eine der strahlendsten Persönlichkeiten des Kantons Tessin.

Zumindest beim Publikum scheint auch Irene Bignardi auf viel Sympathie zu stossen. 2001 verzeichnete das Festival ausserdem einen neuen Besucherrekord. Was ist denn nach Ansicht der Direktorin der ‘Bignardi touch’? “Ich bin vielleicht etwas weniger intellektuell, auch wenn ich eine Intellektuelle bin”, meint sie lachend. “Ich denke vor allem an ein Kino, das etwas auszusagen vermag.”

Das internationale Filmfestival von Locarno scheint guten Zeiten entgegen zu gehen.

Bernard Léchot

Übertragen aus dem Französischen: Charlotte Egger

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