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Rote Rosen für Trabifahrer

Esther Wildi-Lieberherr reichte den Trabi-Fahrern aus dem Osten rote Rosen durchs Fenster. swissinfo.ch

Esther Wildi-Lieberherr stammt aus St. Gallen und ist Goldschmiedin in Berlin. Für sie gehörte die Mauer zur Stadt wie der Ku'damm und der Zoo. Gegenüber swissinfo.ch schildert sie ihre Erinnerungen an die Zeit der Wende.

In der Nacht, als die Mauer fiel, bin ich zum Ku’damm gefahren. Dort drückte mir jemand einen Strauss Rosen in die Hand und sagte, die seien für die Ossis zur Begrüssung.

Ich stellte mich an den Strassenrand, und als die Trabi-Karavane laut hupend vorbeirollte, reichte ich jedem Fahrer eine Rose durchs Fenster. Es wurde geklatscht und gejubelt, wildfremde Leute fielen sich in die Arme.

Diese Bilder des 9. November 1989 haben sich tief in mein Gedächtnis eingegraben. Über so viele Jahre hatte ich die Mauer als etwas Selbstverständliches erlebt – und dann war sie plötzlich weg.

Seit ich 1982 nach Westberlin gekommen war, gehörte die Mauer für mich zur Stadt wie Ku’damm und Zoo. Wenn mich Freunde aus der Schweiz besuchten, fuhren wir immer zum Potsdamer Platz. Da gab es neben Imbissbuden und Souvenirläden auch eine hölzerne Plattform, auf die man hochsteigen und über die Mauer gucken konnte.

Ganze Busladungen mit Touristen wurden da herangekarrt. Viel zu sehen auf Ostberliner Seite gab es nicht: Stacheldrahtverhaue, Wachtürme, eine weitere Mauer und weit hinten eine Reihe Hochhäuser.

Prachtstrassen für West-Besuche

Grau ist die Farbe, mit der ich Ostberlin verbinde. Ich erinnere mich an graue und kaputte Häuser, schmuddelige Taxis – irgendwie schien alles auf dem Stand der 1960er-Jahre stehen geblieben. Es gab weit und breit keine Bäume, kein Grün.

Die tristen Seiten von Ostberlin sah man allerdings erst, wenn man sich auf eigene Faust in der Stadt bewegte. Fuhr man in einem offiziellen Tourbus herum, wurden den Besuchern aus dem Westen nur die Prachtstrassen gezeigt.

Eine Ahnung davon, wie das Leben in der DDR war, bekam ich nach der Wende. Mein damaliger Lebensgefährte führte zusammen mit einem Kompagnon ein Zahnlabor in Westberlin. Ich arbeitete im Büro mit, und schon bald nach der Wiedervereinigung meldeten sich Zahntechniker aus dem Osten auf der Suche nach einem Job.

Wir stellten einen Bewerber ein, und der erzählte uns, dass sich seine Schwester mit einem Labor im brandenburgischen Storkow selbständig machen wolle, ihr jedoch die nötige Technik dazu fehle. Da können wir doch helfen, dachten wir. Also gründeten wir 1991 zusammen mit der ostdeutschen Kollegin eine GmbH.

Unterschiede bei der Arbeit

Damit die Storkower Zahntechniker mit den modernen Geräten vertraut wurden, boten wir als erstes eine Schulung bei uns im Labor an. Sie mussten zum Beispiel Kronen machen oder Ersatzzähne herstellen.

In dieser Zeit erlebte ich ein paar lustige Sachen. Einmal ging ich in den Werkraum, und da waren sämtliche ostdeutschen Kollegen nicht an ihrem Arbeitsplatz. Irgendwann tauchten sie wieder auf, beladen mit Einkaufstüten. Sie hätten von einer Sonderaktion im Supermarkt gehört, erzählten sie, und um nicht stundenlang in der Schlange zu stehen oder gar die Aktion zu verpassen, gingen sie sofort dahin.

Aufgefallen ist mir auch, dass sie aufhörten zu arbeiten, wenn ihnen das Material am Platz ausging. Dass es ein Lager gab, wo man sich neues Material holen konnte, war für Ostdeutsche eine völlig neue Erfahrung.

Da prallten schon zwei Welten aufeinander. Wir im Westen mussten erst mal verstehen lernen, wie das System der DDR die Menschen über Jahre geprägt hat.

Bauleitung statt Schweizer Reise

Der Aufbau des Dental-Labors in Storkow verlief chaotisch. So wurden bereits erste Aufträge ausgeführt, während noch die Buchhaltung umgestellt wurde und die Sanierung der Räume in vollem Gange war.

Ich wollte mich eigentlich aus dem Projekt zurückziehen. Mein Plan war, im zweiten Halbjahr 1991 eine ausgedehnte Schweizer Reise zu machen – aus Anlass der 700-Jahr-Feier – und danach in Berlin meine Goldschmiedeausbildung weiterzuverfolgen. Doch weil mein Lebenspartner verzweifelt klagte, dass in Storkow nichts klappe, bot ich an, noch einmal vor Ort nach dem Rechten zu schauen.

Ja – und ehe ich mich versah, hatte man mir die Bauleitung übertragen. Ein halbes Jahr pendelte ich fast täglich die 35 Kilometer von Berlin nach Storkow. Auf der Baustelle ging es drunter und drüber, und oft fluchte ich über die Folgen der sozialen Planwirtschaft. Vieles blieb an mir hängen, weil die Arbeiter keine Verantwortung übernehmen wollten.

Ich zeichnete Pläne für die Elektriker, sorgte dafür, dass die Leitungen an der richtigen Stelle eingezogen wurden, kümmerte mich um die Beleuchtung an den Werkplätzen und wählte das Mobiliar aus. Endlich, am 1. Dezember, konnte ich das Labor feierlich der ostdeutschen Partnerin übergeben.

Die Schweizer Reise? Die habe ich bis heute noch nicht nachgeholt.

swissinfo.ch, aufzeichnet von Paola Carega, Berlin

Am 2. Mai 1989 durchtrennen die Aussenminister Österreichs und Ungarns den Grenzzaun zwischen den beiden Ländern.

Am 19. August findet in Sopron an der ungarisch-österreichischen Grenze ein “paneuropäisches Frühstück” statt. In dessen Anschluss flüchten mehrere Hundert DDR-Bürger über die Grenze nach Österreich, ohne dass die ungarischen Grenzsoldaten eingriffen.

Immer mehr DDR-Bürger besetzen die Botschaften der BRD in der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn, wo sie die Ausreise nach Westdeutschland verlangen.

Ende September befinden sich über 4000 DDR-Bürger auf dem Gelände der BRD-Botschaft in Prag. Sie konnten mit 17 Zügen nach Westdeutschland ausreisen.

Am 3. November öffnet die Tschechoslowakei die Grenzen für DDR-Bürger.

Am 9. November fällt die Berliner Mauer.

Am 3. Oktober 1990 tritt die DDR der BRD bei, 41 Jahre nach der Teilung ist Deutschland wieder vereint.

Die DDR-Führung hat die Umstände der Todesfälle an der Mauer systematisch verschleiert. Deshalb sind die Angaben zu den Todeszahlen an der Mauer widersprüchlich.

Zwischen dem 13. August 1961 und dem 9. November 1989 kamen an der Berliner Mauer mindestens 136 DDR-Bürger ums Leben. Die meisten wurden von DDR-Grenzsoldaten erschossen.

Weitere Flüchtlinge liessen innerhalb der Sperranlagen (“Grenzstreifen”) oder im Landesinnern der DDR das Leben.

ChrisO, Wikimedia commons

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