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Ruandischer Verlag mit Luzerner Wurzeln

Ruandische Flüchtlinge im Dezember 1996 bei Kibungo, im Südosten des Landes. Keystone

Ohne die Schweizerin Agnes Gyr-Ukunda kämen Kinder in Ruanda nur schwer an Bücher. Vor über zehn Jahren hat sie im ostafrikanischen Land einen Verlag gegründet.

Editions Bakame hat zum Ziel, dort Kinder- und Jugendliteratur zu etablieren.

Der 7. April 1994 ging einer Frau im luzernischen Malters besonders unter die Haut. Agnes Gyr-Ukunda hörte vom Völkermord an der Tutsi-Minderheit in Ruanda. Binnen dreier Monate liess die damalige Hutu-Regierung nach UNO-Angaben fast 800’000 Tutsi und gemässigte Hutus grausam niedermetzeln.

Die gebürtige Ruanderin Agnes Gyr-Ukanda, die 1979 als Romanistikstudentin in die Schweiz gekommen war, musste aus der Ferne miterleben, wie ein Bruder, eine Schwester und deren Familien umkamen.

Raub der eigenen Kultur

Nach dem Völkermord reiste Agnes Gyr-Ukanda in das einstige Heimatland, um nach überlebenden Angehörigen zu suchen, erzählt ihr Mann, der Luzerner Bibliotheksbeauftragte Peter Gyr. Während dieser Reise traf sie auf Waisenkinder, denen “Schneewittchen”-Videos aus der Trostlosigkeit helfen sollten.

“Ich sagte mir, das kann es nicht sein”, erinnert sich Gyr-Ukanda. “Erst zerstört man alles und dann raubt man noch den letzten Rest der eigenen Kultur.” Inspiriert von den Heften des Schweizerischen Jugendschriftenwerks (SJW) keimte in ihr die Idee zur Editions Bakame.

Dieser Verlag, so schwebte ihr vor, sollte gute Kinderbücher zu vernünftigen Preisen produzieren. Vor allem aber in der Landessprache.

Drei Buchhandlungen

“In Ruanda kommen auf acht Millionen Menschen gerade mal drei kommerzielle und ein paar Missions-Buchhandlungen”, hält Peter Gyr fest. Volksbibliotheken finden sich kaum. Eine der Herausforderungen bestand daher darin, in einer Kultur des Mündlichen das geschriebene Wort einzuführen.

1995 schritt Agnes Gyr-Ukanda zur Tat. Sie gründete gemeinsam mit Gleichgesinnten die Editions Bakame, den bis heute einzigen Kinderbuchverlag in Ruanda. Der Name spielt auf einen schlauen Hasen an, der in den ruandischen Volkserzählungen sehr beliebt ist. Schlau ging auch die Sprachwissenschaftlerin vor.

Um eine Kinder- und Jugendliteratur im ostafrikanischen Staat aufzubauen, knüpften die Editions Bakame beim überlieferten Märchengut an. Afrikanische Autorinnen und Autoren sollten diese Erzählungen in Worte fassen, die spannend und kurzweilig zu lesen sind, sagt Gyr-Ukanda.

Schreibwerkstätten

Bewusst wählte sie dazu die Landessprache. Kinder, so ist sie überzeugt, sollten Literatur erst in ihrer Muttersprache entdecken; dies öffne ihnen die Welt der fremdsprachigen Bücher. Da es in Ruanda auch an Autoren mangelte, begann der Verlag, diese in Schreib- und Illustrationswerkstätten auszubilden.

Inzwischen hat Editions Bakame 27 Titel in einer Gesamtauflage von rund 450’000 Exemplaren aufgelegt. Neben Märchen und Erzählungen finden sich heute auch Sachhefte, Jugendromane und Bilderbücher. Der Verlag, der sechs Mitarbeiter beschäftigt, ist seit 2002 in Ruanda als gemeinnützige Organisation anerkannt.

Bücher statt Bier

Die Hefte und Bücher sind nicht teuer, aber sie sollen auch nicht gratis sein. Ihnen würde sonst kein Wert beigemessen, sagt Agnes Gyr-Ukanda. Mit dem Verzicht auf zwei, drei Biere aber sind die günstigsten Schriften zu finanzieren. Den Schulen stellt der Verlag durch Spenden abgegoltene Klassensätze zur Verfügung.

Agnes Gyr-Ukanda erlebte während Schulbesuchen schon, dass der Lehrer ihr stolz die noch druckfrischen, unberührten Bücher zeigte. Man trage ihnen eben Sorge, hörte sie dann sagen. Auch Lehrer müssten zuweilen den Umgang mit Büchern lernen, schloss sie aus dieser Erfahrung.

Leseanimation

Editions Bakame bietet Leseanimationen für Lehrkräfte, aber auch für Kinder an – und erfährt damit Anerkennung: Das UNO-Kinderhilfswerk UNESCO unterstützt diese Lehrerausbildung. Auch die verlegerische Tätigkeit bleibt nicht unbeachtet: 2005 etwa erhielt der Verlag den “BolognaRagazzi Award New Horizons” für eines seiner Bücher.

Allein aus dem Erlös lässt sich die Arbeit nicht finanzieren. 1995 hatte Agnes Gyr-Ukanda dazu in der Schweiz den Verein “Bücher für Kinder in Ruanda” gegründet, den heute der Basler Verleger Urs Breitenstein präsidiert.

swissinfo und Martin R. Schütz (sda)

Am 6. April 1994, unmittelbar nachdem Präsident Habyarimana bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war, begann in Ruanda ein blutiges Gemetzel. Innerhalb von 13 Wochen wurden laut UNO-Angaben fast 800’000 Menschen abgeschlachtet.

Die meisten Opfer zählten zur Minderheit der Tutsi, aber mit ihnen starben auch Tausende Hutu, die das Morden ablehnten oder Tutsi zu beschützen versuchten.

Der Genozid war kein spontaner Ausbruch ethnischer Spannungen, sondern Kalkül einer kleinen Elite, die ihren Machterhalt durch die wachsende Opposition in Ruanda gefährdet sah.

Die Erfolge der von Tutsi dominierten Ruandischen Patriotischen Front (RPF) lieferten den Hutu-Machthabern in Kigali einen Vorwand, um die Kontrolle über sämtliche staatlichen Institutionen an sich zu reissen, mit Hilfe von Militär und Nationalpolizei.

Die internationale Gemeinschaft versagte beim Völkermord in Ruanda: Frankreich, Belgien und die USA wussten ebenso wie die UNO von den Vorbereitungen für die Massaker. Ein entschlossenes gemeinsames Vorgehen auf politischer oder militärischer Ebene hätte das Blutvergiessen höchstwahrscheinlich verhindern oder beenden können.

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