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“Die Schweiz ist ein Wunsch vieler Georgier, die EU ein Muss”

Der Schweizer Botschafter Günther Bächler in seinem Büro in Tbilisi. swissinfo.ch

Georgien liebäugelt mit dem Westen, versucht sich mit dem grossen Nachbarn Russland zu arrangieren, hat mit Wirtschaftsproblemen und ungelösten territorialen Konflikten zu kämpfen. Dennoch bezeichnet der Schweizer Botschafter in Tbilisi die momentane Lage als relativ stabil, was eine Voraussetzung für den weiteren Demokratisierungsprozess und die wirtschaftliche Erholung sei.

2009, nach dem bewaffneten Konflikt um die abtrünnigen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien, übernahm die Schweiz die diplomatischen Interessen Georgiens in Moskau und jene Russlands in Tbilisi.

Günther Bächler, der Schweizer Botschafter in GeorgienExterner Link, trifft sich  einmal pro Woche mit der russischen Sektion (frühere Botschaft), um anstehende Fragen zu diskutieren. Es geht um Noten, die zwischen den beiden Ländern ausgetauscht werden müssen, etwa um konsularischen Schutz, Rentenbescheide, um russische Häftlinge, die in Georgien im Gefängnis sind – um allerlei Fragen, die sonst zwischen Ländern direkt beantwortet werden. Einmal im Jahr reist er auf Einladung des russischen Aussenministeriums nach Moskau, um dort die andere Seite zu sehen. Umgekehrt kommt der Schweizer Botschafter in Moskau einmal pro Jahr zum gleichen Zweck nach Tbilisi.

Der Konflikt um die abtrünnigen Regionen Abchasien und Südossetien ist nicht Teil des Schweizer Schutzmachtmandats, sondern wird bei Gesprächen in Genf behandelt.

swissinfo.ch

swissinfo.ch: Russland hat mit Abchasien und Südossetien 2014/2015  wirtschaftliche und militärische Abkommen geschlossen. Was bedeutet das für Georgien?

G.B.: Die Lösung des Konflikts hängt stark vom Status ab. Da die beiden Regionen von Russland, nicht jedoch von Georgien als unabhängige Staaten anerkannt werden, stellen wir uns auf eine länger dauernde Suche nach einer Lösung ein. Die beiden Abkommen über strategische Partnerschaft sehen eine enge Anbindung Abchasiens und Südossetiens an Russland vor.

Ungelöste Konflikte haben stets starke Auswirkungen auf die betroffenen Länder, deren Gesellschaft und Wirtschaft. Man kann sagen, dass auch dieser Konflikt dafür verantwortlich ist, dass sich weder Georgien noch Abchasien oder Südossetien als Gesellschaften entwickeln können, wie das ohne diesen Konflikt möglich wäre.

swissinfo.ch: Rund eine halbe Million der 3,7 Mio. Menschen in Georgien sind Binnenflüchtlinge aus diesen zwei Gebieten. Wie geht die georgische Gesellschaft mit diesem Flüchtlingsproblem um?

G.B.: Die Flüchtlingssituation in Georgien hat eigentlich wenig akute Konflikte verursacht, auch wenn die Vertriebenen vom sozialen Wohnungsbau sicher profitieren und manchmal sogar bessere Wohnungen erhalten als die lokale Bevölkerung. Deshalb haben wir bei unseren Wohnungs-Projekten, die über die humanitäre Hilfe der Schweiz realisiert wurden, darauf geachtet, dass wir immer einen sozialen Mix von Vertriebenen und ansässigen sozial schwachen Bevölkerungsgruppen berücksichtigen.  

Georgien

Das Kaukasus-Land ist seit 1991 ein unabhängiger Staat. Seit dem Konflikt mit den abtrünnigen Gebieten Abchasien und Südossetien 1992 und dem Krieg von 2008 zwischen Russland und Georgien gibt es im Land über eine halbe Million Intern-Vertriebene.

Das Land ist eineinhalb Mal so gross wie die Schweiz und hat 3,7 Mio. Einwohner, 14,7% weniger als 2002. Über 70% der Bevölkerung sind Georgier. Grössere Minderheiten sind Russen, Armenier, Aseris. Eine Mehrheit gehört der Georgisch Orthodoxen Kirche an.

2014 schloss Georgien ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen mit der EU. Zudem strebt das Land einen Nato-Beitritt an.

Gemäss letzter Umfrage des National Democratic Institute (NDIExterner Link; US-NGO in Georgien) sind 31% der georgischen Bevölkerung für einen Beitritt ihres Landes zur russisch dominierten Eurasischen Union. 76% der Georgier sehen laut NDI Russland als Bedrohung für ihr Land.

Das Pro-Kopf-Einkommen lag 2014 bei 3700 US-Dollar (Quelle: IWF). Die Arbeitslosigkeit beträgt offiziell 14%, inoffizielle Zahlen liegen bei über 50%.

Konflikte gibt es eher zwischen dieser grossen Zahl von Vertriebenen und der Regierung. Denn viele von ihnen, auch aus der ersten Flüchtlingswelle von 1992, haben noch keine Wohnung erhalten. Sie leben noch immer in Unterkünften, die sie zur Zeit ihrer Flucht bezogen haben: in ehemaligen Schulhäusern, Kindergärten oder Hotels, teils ohne Heizung, oder in notdürftig gebauten kleinen Häusern, die von der humanitären Hilfe für zwei, drei Jahre zur Verfügung gestellt wurden und nach 20 Jahren natürlich nicht mehr intakt sind.

swissinfo.ch: Inwiefern wirkt sich der Ukraine-Konflikt auf Georgien aus?

G.B.: Umfragen unabhängiger Institutionen zeigen, dass die Furcht vor Russland einerseits zugenommen hat. Auf der anderen Seite ist eine gewisse Bereitschaft da, sich aufgrund der Ukrainekrise pragmatisch mit dem mächtigen Nachbarn zu verständigen, gewisse Kompromisse einzugehen und Russland nicht zu provozieren. Untermauert wird dies auch durch die Zunahme des Handels zwischen den beiden Ländern und russischer Investitionen in Georgien.

Ich denke, gerade in der Schweiz versteht man natürlich, dass man mit Nachbarn auch in kritischen Situationen so auskommen muss, damit das Sicherheitsrisiko tragbar ist.  

swissinfo.ch: Man will Russland also nicht provozieren. Andererseits hat Georgien im letzten Jahr mit der EU ein Assoziierungs- und Freihandelsabkommen geschlossen und strebt einen Nato-Beitritt an –  eine Entwicklung, die dem grossen Nachbarn kaum behagt…

G.B.: Georgien ist ein Land, das in Richtung Westen schaut, wenn man den Umfragen trauen kann. Meine Beobachtungen bestätigen diese Tendenz. Ein Grossteil der Georgierinnen und Georgier fühlt sich europäisch, hat den Wunsch, Teil Europas zu sein.

Im Moment wird ein Gefühl des Vakuums empfunden, denn man hat von keiner Seite eine stabile Sicherheitsgarantie. Das Beispiel Ukraine hat verdeutlicht, dass es schwierig sein kann, wenn man keinem Bündnis angehört, aber sich auch nicht auf eine international garantierte Neutralität verlassen kann.

Die Regierung und die Bevölkerung von Georgien wollen diesen Westkurs aufrechterhalten und bei der Wirtschaftszusammenarbeit und bei Sicherheitsgarantien profitieren, gleichzeitig aber mit dem Nachbarn Russland pragmatische Beziehungen pflegen. Es ist ein Balanceakt, der sich auch aus der geografischen und geostrategischen Lage erklären lässt.

swissinfo.ch: Sowohl die EU wie auch die Nato haben Georgien für seine Fortschritte gerühmt. Wecken sie damit bei Georgien nicht zu grosse Hoffnungen, die angesichts der Befindlichkeit Russlands nie erfüllt werden?

Schweiz – Georgien

Seit 1996 besteht in Tbilisi ein Kooperationsbüro der Schweizer Entwicklungs-Zusammenarbeit. 2001 wurde die Schweizer Botschaft in Georgien eröffnet. Seit 2011 hat Georgien eine Botschaft in Bern.

Nach dem bewaffneten Konflikt von 2008 übernahm die Schweiz im März 2009 die Vertretung der diplomatischen Interessen Georgiens in Moskau und der Russischen Föderation in Tbilisi.

Zur Zeit sind in Georgien 62 Schweizer Staatsangehörige registriert.

Der Handel zwischen Georgien und der Schweiz ist auf tiefem Niveau: Die Schweiz exportierte 2014 Waren für 44,9 Mio. Schweizer Franken und importierte georgische Güter für 1,6 Mio. Auch die Investitionen nach Georgien sind gering: 2013: 17 Mio. Dollar, 2014: 5 Mio. Dollar. 

G.B.: Strategisch betrachtet muss sich Europa mit Fragen des Friedens, der Zusammenarbeit und der Integration wieder auseinandersetzen –  zum ersten Mal in dieser Form seit 1989. Für die EU stellt sich die Frage, wie weit sie in der Erweiterung, in der Assoziierung gehen will. Tatsache ist, dass der Assoziierungsprozess aufgegleist ist. Wie lange er dauern wird, weiss niemand genau.

swissinfo.ch: Georgien ist ein Agrarland, muss aber einen grossen Teil seiner Nahrungsmittel importieren. Wo liegen die Gründe für diese tiefe Produktivität?

G.B.: Zum einen liegt es am Zusammenbruch des sowjetischen Systems nach der Unabhängigkeit des Landes, das durch kein neues System ersetzt wurde. Viele Arbeiter der Kolchosen wurden arbeitslos, es gab eine Privatisierung, man verteilte ein, zwei Hektaren Land, und so entstanden kleine Familienbetriebe der Selbstversorgung  – es war eine Lösung für die sozialen Probleme auf dem Land, aber keine moderne und effiziente Agrarwirtschaft.

Erst seit ein paar Jahren nimmt die Regierung die Landwirtschaftspolitik in die Hand und versucht, mit einer umfassenden Strategie, die sogar Biolandwirtschaft umfasst, von diesen Defiziten wegzukommen. Man möchte versuchen, Landstücke für grössere Betriebe von 5 bis 10 Hektaren zusammenzulegen und will Genossenschaften fördern. Ziel ist es, die Produktivität in der Landwirtschaft und den Selbstversorgungsgrad zu erhöhen.

Hier ist auch die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) aktiv. Beim Schwerpunkt der Schweizer Zusammenarbeit geht es aber nicht nur um Landwirtschaft, sondern wir möchten Wertschöpfungsketten im ländlichen Raum herstellen und so zu wirtschaftlichem Wachstum auf dem Land beitragen. Das betrifft nicht nur Bauern, sondern auch die Lebensmittelverarbeitung, Zulieferbetriebe, Transport und Märkte.

swissinfo.ch:  Bundesrat Johann Schneider-Ammann ist am Rande der Jahreskonferenz der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung Mitte Mai in Tbilisi auch mit georgischen Wirtschaftskreisen zusammengekommen. Ein Zeichen dafür, dass die Schweiz in diesem Kaukasus-Land mehr investieren will?

Günther Bächler

Geboren 1953 in Basel.

Studierte in Basel Kunst und Kunstgeschichte sowie an der Freien Universität Berlin Politikwissenschaft, Geschichte und Internationale Beziehungen.

1988 – 2000: Leiter der Schweizerischen Friedensstiftung in Bern (heute: swisspeace).

2005 – 2007 war er für die Politische Direktion als Spezialgesandter im Friedensprozess in Nepal tätig. Nach dem Friedensabkommen we­ch­selte er im November 2007 in die Botschaft Khartoum.

Im April 2010 wurde er vom Bundesrat zum Missionschef in Georgien nominiert. Im Sommer 2015 verlässt er den Posten.

G.B.: Das Interesse hat in den letzten zwei, drei Jahren sicher zugenommen. Aber der Markt ist noch sehr klein, die Potentiale sind noch nicht richtig angezapft, die regionale Integration, die es bräuchte, damit Georgien in einzelnen Bereichen so etwas wie ein Hub würde, ist durch den Konflikt mit Russland behindert.

Die Gespräche beim Besuch von Bundesrat Schneider-Ammann haben aber auch gezeigt, dass es hier trotz kritischer Aspekte einen Willen gibt, Leute mit Ideen, mit Ausbildung, auch mit Finanzen, die sehr gerne enger mit der Schweiz zusammenarbeiten würden.

swissinfo.ch: Sie haben sich in einem Interview in einer georgischen Zeitung kritisch-konstruktiv zur Politik in Georgien geäussert, was für einen Botschafter eher unüblich ist. Wird das von der Regierung in Tbilisi goutiert?

G.B.: In Georgien ist das nicht ganz ungewöhnlich, weil das Land sehr offen ist für westliche Unterstützung, was eben auch freundschaftliche Kritik beinhaltet. Die Schweiz hat über das Schutzmachtmandat, aber auch über eine partnerschaftliche Beziehung zwischen den Regierungen, eine gewisse Sonderrolle im positiven Sinn. Die Schweiz ist eine Wunschvorstellung vieler Georgierinnen und Georgier, die EU ein Muss.

Wenn ich also Dinge kritisch anspreche, dann mache ich das in der Regel im Hintergrund mit verschiedenen Regierungsvertretern, mit den Partnern, was sehr geschätzt wird. Wir stehen für Demokratie, Menschenrechte, Rechtsstaat, Korruptionsbekämpfung und freie Marktwirtschaft. Diese Bereiche sind wichtig, wenn man die Wirtschaftsbeziehungen vertiefen und mehr Investitionen und Handel erreichen will. Mit diskreter Diplomatie geht das nicht immer, manchmal muss man etwas deutlicher werden.

swissinfo.ch: Im Sommer verlassen Sie den Posten in Tbilisi. Wie schätzen Sie die Zukunft für Georgien ein?

G.B.: Ich war eigentlich grundsätzlich immer optimistisch über die Entwicklungsmöglichkeiten von Georgien, weil es ein liebenswürdiges Land mit einer liebenswürdigen Bevölkerung ist in einem schwierigen Kontext, einer schwierigen Region, mit vielen Einflussfaktoren von Nord, von Süd, von Ost, von West. Man wird sehen, ob die Entwicklung in den nächsten zehn Jahren gelingen wird.

Was es braucht, sind eine europäische Perspektive und Ideen zu einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur. Ich habe 1989 das Ende des Kalten Krieges erlebt und auch aktiv in Berlin dazu beigetragen. Ich hoffe, 25 Jahre später, dass wir nicht wieder eine Trennung Europas erleben. 

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