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Schweizer Arbeitszeit in neuem Licht

In den 1950er-Jahren war die Arbeitzeit länger, aber man hat sich mehr Zeit genommen für die Arbeit. RDB

Die Arbeitszeit der Erwerbstätigen hat in der Schweiz seit 1950 um einen Drittel abgenommen. Während 1950 im Durchschnitt jährlich 2400 Stunden gearbeitet wurde, sind es heute noch 1600 Stunden. Das zeigt eine Studie des Schweizerischen Nationalfonds.

Gemäss der Studie der Autoren Michael Siegenthaler und Michael Graff von der ETH-Konjunkturforschungsstelle (KOF) hat sich die jährliche Arbeitszeit in der Schweiz stärker reduziert als bisher angenommen.

Seit 1990 basieren die ökonomischen Modelle auf jährlichen Arbeitszeiten von 2150 Stunden. Tatsächlich arbeitete ein durchschnittlicher Erwerbstätiger vor 60 Jahren aber 2400 Stunden und heute nur noch 1600. 

Die Autoren geben drei wichtige Faktoren an, um die Änderungen zu erklären. Erstens ging die durchschnittliche Arbeitszeit pro Woche von 50 auf 42 Stunden zurück. Zweitens haben die Angestellten 5 Wochen bezahlten Urlaub, 1950 waren es nur 2 Wochen. Der dritte Faktor ist die steigende Zahl von Teilzeit-Beschäftigten, die einen halben Tag oder mehr pro Woche frei haben. 1950 traf dies auf lediglich 5% der Beschäftigten zu. Heute sind es rund 31%.

Die Autoren führen die Arbeitszeit-Reduktion auf die technologische Entwicklung zurück. Die geringere Anzahl Stunden widerspreche aber nicht der Tatsache, dass sich viele Leute an der Arbeit gestresst fühlen und unter Burnout leiden.

“Die Anzahl Stunden sagt nichts über die Arbeitsintensität aus, die in den letzten Jahren mit Sicherheit zugenommen hat, weil sich die Arbeitsbedingungen geändert haben. Zum Beispiel infolge einer permanenten Verfügbarkeit”, sagen die Autoren.

Falsche Berechnungen

In ihrer Studie heben Michael Siegenthaler und Michael Graff hervor, dass die Bevölkerung in der Schweiz in den letzten 60 Jahren beträchtlich gewachsen und die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden grösser geworden sei. Die Zunahme sei aber nicht so stark gewesen, wie bisher angenommen. Bei den Angaben, die bis jetzt verwendet wurden, hatte man die Arbeitszeit unterschätzt, die in den 1950er-Jahren geleistet worden waren.

Die Arbeitsproduktivität wird als Bruttoinlandprodukt (BIP) pro Arbeitsstunde berechnet. In den 1950er-Jahren war die Produktivität geringer als bisher angenommen: Das BIP hätte durch eine grössere Anzahl Stunden, nämlich 2400 anstatt 2150, geteilt werden müssen.

Die neuen Berechnungsgrundlagen haben auch ergeben, dass die Produktivitätssteigerung seit 1973 bei jährlich rund 1,3% lag – was für einen Mitgliedstaat der OECD verhältnismässig wenig ist. Die Wachstumsverlangsamung war aber weniger dramatisch als es die Ökonomen während längerer Zeit annahmen.

Diese Frage sei nicht nur aus ökonomischer Sicht interessant, sagt Graff gegenüber swissinfo.ch. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) benutze die Zahlen, um die Schweizer Wirtschaftspolitik abzubilden. “In den 1990er-Jahren gab es eine intensive politische Debatte über das schwache Wachstum in der Schweiz”, sagt Graff.  “Das Seco gehörte zu jenen, die für Änderungen, für Wirtschaftsreformen plädierten: flexiblere Märkte, Öffnung, usw.”

Die neue Studie suggeriert weder, dass dies unbedingt falsch war – sondern nur, dass die Wirtschaftspolitik auf falschen Annahmen basierte – noch, dass alles rosig war. “In den letzten 10 Jahren hat das Prokopf-Einkommen – trotz Einwanderung – nicht so stark zugenommen, wie man es gewünscht hätte”, sagt Graff.

Es sei aber nicht das Ziel der Studie, irgend eine spezielle Änderung der Wirtschaftspolitik zu empfehlen. “Wenn man 10 Personen in der Schweiz fragen würde, was das Seco tun sollte, dann würden alle antworten, es müsse etwas ändern. Aber jede Person hätte eine andere Meinung darüber, was geändert werden müsste.”

Wie es damals war

Wer heute in den Arbeitsprozess eintritt, kann sich kaum vorstellen, wie sich das Leben vor 50 oder 60 Jahren in einem Büro abgespielt hat.

Die 78-jährige Agnes Zbinden arbeitete ab 1963 während 25 Jahren als Telefonistin und Sekretärin für eine Werbeagentur in Bern.

Die Belegschaft bestand je zur Hälfte aus Frauen und Männern. Anfänglich waren nur Männer als Grafiker und Werbetexter angestellt, aber das änderte sich, als an den Fachschulen professionelle Ausbildung für Werbeassistenten angeboten wurde und sich auch Frauen diese Qualifikationen erwarben. Werbeleiter sind allerdings immer noch hauptsächlich männlich.

Mit 9 Stunden lag die tägliche Arbeitszeit im Büro um 1 Stunde über jener von heute – und die Mittagspause dauerte 90 Minuten. Agnes Zbinden begann ihre Arbeit um 7 Uhr 30 und ging um 18 Uhr nach Hause. Aber wenn lange Texte eingetippt oder Broschüren gebunden werden mussten, konnten sie und ihre Kolleginnen und Kollegen das Büro nicht rechtzeitig verlassen. “Manchmal mussten wir abends bis 22 Uhr arbeiten, ohne dass die Überstunden bezahlt wurden”, sagt sie gegenüber swissinfo.ch.

“Wir beklagten uns nicht, weil wir eine andere Einstellung gegenüber der Firma hatten. Ich war nicht verheiratet, und die Firma war für mich wie eine Familie.”

In den ersten Jahren ihrer beruflichen Tätigkeit hatte sie 3 Wochen, später 4 Wochen Ferien. “Wir hatten ohnehin zu wenig Geld, um gross Ferien zu machen. Wenn man für vier Wochen weggeht, kostet es viel.”

Agnes Zbinden will sich aber nicht über den Lohn beklagen. Stellen in der Werbebranche waren verhältnismässig gut bezahlt.

Teilzeit-Arbeit war zwar eine Möglichkeit, aber nicht sehr gebräuchlich. In den späten 1980er-Jahren war Agnes Zbinden eine von zwei Angestellten, die von der Möglichkeit Gebrauch machten. Am Freitagnachmittag nahm sie jeweils frei, um den Haushalt zu besorgen. Ihre Kollegin nahm sich eine Auszeit, um ihrem Mann in der Tierarzt-Praxis zu helfen.

Mit der Zeit nahm die Hektik am Arbeitsplatz zu, sagt sie. “Man verlangte mehr von uns. Anfänglich mussten wir nur den Ansprüchen unserer Kunden genügen, aber später gab es immer mehr Konkurrenzdruck.”

Anfangs der 1990er-Jahre verlor ihre Firma einen wichtigen Auftraggeber und ging Konkurs. Dieses Ereignis war für Agnes Zbinden fast wie eine “Lebenskrise”, und ihr Chef habe sich nie mehr richtig davon erholen können.

Gemäss Zahlen des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco) kosten stressbedingte Ausfälle die Schweizer Wirtschaft 4,2 Mrd. Franken pro Jahr.

Laut Experten haben die meisten Hausarztbesuche (über 90%) stressbedingte Faktoren. Immer häufiger müssten auch junge Menschen eine Auszeit nehmen.

Ein Burnout entsteht wegen zu viel Stress. Stress führt aber nicht zwingend zu einem Burnout.

Eine genaue Definition des Begriffs “Burnout” gibt es nicht. Wissenschaftlich belegt ist, dass ein wesentliches Merkmal das “Gefühl der Erschöpfung” ist.

Die Autoren der Schweizer Stressstudie 2010 des Seco fragten 1000 Personen, ob sie bei der Arbeit das Gefühl hätten, emotional verbraucht zu sein. 21% antworteten mit “trifft eher zu”, 4% mit “trifft völlig zu”.

Die Studie ging davon aus, dass jene 4% “ein klinisches Niveau von Burnout aufweisen und psychologischer und ärztlicher Behandlung bedürfen”.

Die Autoren gaben aber auch zu bedenken, dass die Annahmen ihrer Studie “in einer weiteren Studie erhärtet werden” müssten, die andere Aspekte des Burnouts ebenfalls erfassen sollte, um ein “eindeutigeres Ergebnisbild zu erhalten”.

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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