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Treiben harte Zeiten Rumänen ins Ausland?

Führt die europäische Finanzkrise zu leeren Strassen in Rumänien? swissinfo.ch

Wegen der gesamteuropäischen Finanzkrise und steigender Arbeitslosigkeit befürchten Politiker in den aufstrebenden Ländern in Osteuropa soziale Unruhen. Dennoch gibt es keine Anzeichen, dass rumänische Arbeitskräfte in Scharen ihr Land verlassen wollen.

Im Januar verabschiedete die rumänische Mitte-Links-Regierung von Ministerpräsident Emil Boc ein Budget zur Senkung des Haushaltdefizites von 5% des Bruttoinlandproduktes 2008 auf 2%.

In Rumänien wird für dieses Jahr mit einem Wirtschaftswachstum von lediglich noch 4% gerechnet. In den letzten drei Jahren war es doppelt so hoch (8%) gewesen. Die Staatseinnahmen sinken, und Boc überlegt sich, ob Rumänien sich von der EU oder dem Internationalen Währungsfonds (IWF) aus der Patsche helfen lassen will.

Auswandern kein Thema

Im Gegensatz zum südlichen Nachbarstaat Bulgarien ist es in Rumänien wegen der Krise bisher nicht zu Unruhen gekommen. Und die meisten Leute denken kaum daran, als Wirtschaftsflüchtlinge das Land zu verlassen, auch wenn die Krise noch grösser werden sollte.

Rumäninnen und Rumänen können sich seit dem EU-Beitritt ihres Landes vor zwei Jahren in ganz Europa frei bewegen. Wenn das Schweizer Stimmvolk am Wochenende Ja sagt zur Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien, werden sie – mit einem gültigen Arbeitsvertrag – dies auch in der Schweiz tun können.

Unqualifizierte rumänische Arbeiter, von denen sich viele in Spanien und Italien niedergelassen haben, kehren bei der jetzigen Finanz- und Wirtschaftskrise in Europa wegen den schlechten Arbeitsperspektiven wieder nach Hause zurück. Andere wollen das Risiko, jetzt auszuwandern, nicht eingehen.

“Sie haben hier ein Haus, einen Job und ein Auto”, sagt der rumänische Taxifahrer Paul gegenüber swissinfo. Er wartet beim Henri-Coanda-Flughafen von Bukarest auf Fahrgäste. “Man kann nicht riskieren, nach den Sternen zu greifen. Auch wenn man wenig hat, bleibt man zu Hause.”

Taxifahrer hätten in den letzten Jahren viele positive Veränderungen erlebt und würden deshalb ein mögliches Auswandern in ein reicheres europäisches Land realistisch abwägen.

Niedriglohnland Rumänien

“Wenn du in die Schweiz gehen und dort Erfolg haben willst, musst du ein qualifizierter Spezialist sein”, fährt der Taxifahrer fort. “Die Schweiz ist nicht wie Italien, wo du in der Landwirtschaft arbeiten kannst.”

Das offizielle Pro-Kopf-Jahreseinkommen in Rumänien beträgt laut IWF 9953 Dollar (11’540 Franken). Die Löhne gehören zu den niedrigsten in Europa.

Dennoch sagt Paul, dass er auch in der jetzigen Finanzkrise zu Hause überleben kann. “Ich habe auf meinem Balkon ein paar Kartoffeln und Kohl für den Winter angepflanzt. “Ich spiele nicht an der Börse, also betrifft mich die Finanzkrise auch nicht so sehr.”

Von der Debatte in der Schweiz über die Öffnung des Arbeitsmarktes für Arbeitskräfte aus Rumänien und Bulgarien weiss Paul nur wenig. Die Kleinheit der Schweiz macht für ihn alles irrelevant.

Starke Identität

“Über die Schweiz wird hier nicht viel gesprochen”, sagt die 20-jährige Madalina Nicola, die in Bukarest europäische Politik studiert. Sie selber hat aber die Debatte in der Schweiz mitverfolgt und kennt die Position der Rechtsparteien, die ihr Land gegen “die Bedrohung von aussen, wie sie sagen”, verteidigen wollten.

Als Teilzeitangestellte in einer Buchhandlung in Bukarest sieht Madalina Nicola ihr Land als “offen, mit Blick nach aussen, aber stark in seiner Identität”. Sie sehe in der Buchhandlung viele Leute, die Bücher über fremde Kulturen und Geschichte kaufen würden, sagt sie gegenüber swissinfo. Sie selber möchte weg von Bukarest, aber nicht weg aus Rumänien. “Ich habe in meinem Land noch so viele Dinge zu entdecken.”

Hightech

Timisoara könnte sehr wohl als “kleines Silicon Valley” bezeichnet werden. An diesem Ort ausserhalb von Bukarest produzieren europäische und amerikanische Software-Firmen viele von ihren Programmen. Dort gibt es auch viele Top-Hackers…und einen irischen Pub. Denn in Timisoara leben auch Iren. Manager von Firmen mit Hauptsitz in Dublin, die in der rumänischen Stadt Transistoren für eine nächste Generation von Mobiltelefonen produzieren.

Ausländische Firmen, die in Rumänien operieren, schnappen sich rund 75% der Ingenieur-Studenten, sobald diese abgeschlossen haben. Die Hochschulabsolventen sind motiviert und kosten hier viel weniger, als wenn sie in Westeuropa angestellt würden.

Selbstverteidigungs-Mechanismus

Mircea ist ein Hardware-Ingenieur, der in Rumänien bleiben will, trotz der “Engstirnigkeit” seines Landes, wie er sagt. Es gebe hier einen starken “nationalen Selbstverteidigungs-Mechanismus”. Die Menschen seien sich der schlechten Reputation des Landes im restlichen Europa bewusst. Einige geben die Schuld den Roma, aber auch sich selber. Viele würden denken, das Land habe wenig getan, um negativen Entwicklungen entgegenzuwirken.

Im rauchigen Pub in Timisoara wechselt Mircea vom Tisch mit irischen Freunden zu einem anderen Tisch, wo der 26-jährige Programmierer Walter ein Bier trinkt. Walter spricht fliessend Englisch und ein bisschen Deutsch. Er beklagt sich nicht gross über Rumänien. Aber im Gegensatz zu Mircea will er sich um einen Arbeitsvertrag im Ausland bemühen. Die einheimischen Firmen hielten nichts von Kurzzeit-Arbeitsperioden. Er werde in London sicher mehr Geld verdienen.

Walter will später wieder nach Hause zurückkehren. Nicht so seine jüngere Schwester, die an der Universität von Chicago in den USA Psychologie studiert. Sie werde wahrscheinlich nicht nach Rumänien zurückkehren. Sie schulde ihren Eltern 40’000 Dollar Unterrichtsgebühren für ein Jahr.

swissinfo, Justin Häne, Timisoara und Bukarest
(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)

Rumänien

Bevölkerung: 22,3 Millionen

Offizielle Sprache: Rumänisch

BIP pro Kopf: 14’807 Fr.



Schweiz

Bevölkerung: 7,7 Millionen

Offizielle Sprachen: Deutsch, Französisch, Italienisch, Romanisch

BIP pro Kopf: 76’559 Fr.

In der Schweiz leben 4400 Rumänen.

Vor 1990 kamen vor allem Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle.

Seit 1990 waren es Ingenieure, Ärzte und Professoren, also hoch qualifizierte Spezialisten.

Rund 900 Rumäninnen und Rumänen leben in Genf, 900 in Zürich, 300 in Bern. Ein Rumäne lebt im Kanton Uri.

Seit dem 19. Jahrhundert bestehen zwischen der Schweiz und Rumänien vielfältige Beziehungen.

Zahlreiche Schweizer, darunter Weinbauern, emigrierten nach Rumänien, Reisende aus Rumänien besuchten die Schweiz. Bis 1940 brachten es mehrere Schweizer zu wichtigen Posten in der rumänischen Verwaltung, im Königshaus oder in der Politik. Einer von ihnen, Julien Peter, war in den 1920er-Jahren Stadtpräsident von Bukarest.

Der Kalte Krieg führte zu einer Abkühlung der Beziehungen. Ab 1990 wurden sie neu belebt, insbesondere auch mittels Kontakten, die Schweizer Gemeinden mit rumänischen Dörfern geknüpft hatten. 2003 hoben die beiden Länder die gegenseitige Visumpflicht auf.

Ab 1990 und bis zum EU-Beitritt von Rumänien am 1. Januar 2007 unterstützte die Schweiz das Land im Rahmen der Transitionshilfe bei den Reformen im Gesundheits-Wesen und bei der Förderung der Infrastruktur und des Umweltschutzes.

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