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“Rechtsrutsch muss differenziert betrachtet werden”

Die beiden Wahlsieger: Links Philipp Müller, Präsident der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP.Die Liberalen), und rechts Toni Brunner, Präsident der Schweizerischen Volkspartei (SVP). Keystone

Zwar verfügen rechte Parteien im 200-köpfigen Nationalrat des Schweizer Parlaments seit dem Wahlsonntag über eine absolute Mehrheit von 101 Stimmen. Doch diese dürfte in den wenigsten Fällen spielen, meint Politologe Marc Bühlmann. Der Wahlsieg der Schweizerischen Volkspartei (SVP) dürfte wohl auch zu mehr Referenden führen.

Die SVP konnte ihre breite Basis im Nationalrat stark ausbauenExterner Link. Lag es an ihrer Haltung zur Flüchtlingsthematik oder eher daran, dass sie gegen Abkommen mit der Europäischen Union politisiert?

Es gibt unterschiedliche Gründe. Auf der einen Seite gab es, wahrscheinlich im Gegensatz zu vor vier Jahren, eine andere Art Mobilisierung. Das hat mit den Themen zu tun. Wir hatten vor vier Jahren Fukushima, was wohl vor allem eine urbane Bevölkerung mobilisiert hat, die eher GLP und Grüne gewählt hat.

Mir liegen die Zahlen der Stadt Zürich vor: Diesmal konnte die Linke in den Städten stark zulegen. Die SVP hat in der Stadt Zürich verloren, aber auf dem Land stark zugenommen.

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Das heisst, wir können davon ausgehen, dass die eher konservativer eingestellte, rurale Bevölkerung, die regelmässiger an die Urne geht, etwas stärker mobilisiert wurde.

Das Thema bei diesen Wahlen war das Flüchtlingsthema. Und das hat ziemlich sicher der SVP in die Hände gespielt. Die Europapolitik wurde von den Parteien nicht wirklich bearbeitet.

Was ist mit den Grünen und Grünliberalen los? Sind Klimawandel und Umwelt kein Thema mehr?

Es sieht so aus, also ob dieses Thema nicht zieht. Wahrscheinlich wurde es von diesen Parteien zu wenig sichtbar bearbeitet. Das andere zeichnet sich eigentlich schon seit acht Jahren ab: Das Ökologie-Thema ist kein Nischenthema mehr.

Die Grünen werden nach wie vor als wichtige Partei in diesem Thema wahrgenommen. Aber alle anderen Parteien haben dazugelernt und sind jetzt auch ein wenig ökologisch.

Wenn man in die Zukunft schaut, könnte man sagen, dass die Trennung von GLP und Grünen vielleicht dem Untergang dieses Themas als politisches Nischenthema für eine einzige Partei Vorschub geleistet hat.

Was bedeutet der Rechtsrutsch für die Arbeit im Parlament?

Bestimmte Themen werden prononcierter. Die Finanz- und Sparpolitik werden es wahrscheinlich im Nationalrat einfacher haben. Letztlich darf man aber die Zahlen nicht so dramatisch sehen.

Die Politik in der Schweiz findet nach wie vor in den Kommissionen statt. Dort ist wichtig, wie diese personell zusammengesetzt werden. Und auch dort werden nach wie vor Kompromisse gesucht.

Was man erwarten kann – wir wissen ja noch nicht alle Resultate aus dem Ständerat –, ist, dass zwischen den Kammern vielleicht ein bisschen mehr Blockade herrschen wird.

Also noch mehr Pattsituationen als bisher zwischen der grossen und der kleinen Parlamentskammer?

Ja. Der Ständerat war schon immer fast historisch jene Kammer, die Auswüchse im Nationalrat jeweils ein bisschen kontrolliert oder korrigiert hat. Neu hat man im Nationalrat eine rechte Mehrheit. Das könnte dazu führen, dass verschiedene Vorlagen schliesslich nicht durchkommen.

SRF

Marc Bühlmann

Der Glarner Politologe lehrt an den Universitäten Zürich und Bern.

Er leitet seit 2011 das Schweizerische Jahrbuch für Politik (Année Politique Suisse) am Institut für Politikwissenschaft der Universität Bern.

Welche Zukunft hat die Energiestrategie 2050, zu der auch der Ausstieg aus der Atomkraft gehört?

Was gestern vermutlich auch geschah, ist, dass Themen oder Parteien minorisiert wurden. Und in der Schweiz wissen wir, dass Minoritätsparteien dann das Instrument der direkten Demokratie stärker nutzen. Ich könnte mir vorstellen, dass nicht nur im Energiethema, sondern auch in anderen Themen häufiger Referenden ergriffen werden.

Beim Thema Einwanderung und Bilaterale Abkommen wird es für die SVP schwieriger, Mehrheiten zu finden, da die FDP sich für gute Beziehungen zur EU einsetzt.

Dieses Thema ist ein sehr schönes Beispiel, um zu zeigen, dass dieser Rechtsrutsch sehr differenziert betrachtet werden muss. Denn hier wird die FDP sicher nicht mit der SVP das Heu auf der gleichen Bühne haben. Hier ist die SVP nach wie vor in einer Minderheit. Und man wird Lösungen finden, die der SVP sicher nicht gefallen werden.

Wie wird die FDP mit dieser Schlüsselrolle im Parlament umgehen?

Sie ist jetzt in einer Position, mit der sie auch spielen kann. Sie hat sich in diesem Sinn zahlenmässig emanzipiert von der SVP. Sie ist jetzt nicht mehr Juniorpartner der SVP, der alles machen muss, was diese sagt. Sie kann durchaus auch bürgerlich stimmen, das heisst, zusammen mit der CVP.

In der Asylpolitik wird es wohl zu weiteren Verschärfungen kommen?

Wenn wir hier die Entwicklung anschauen, haben wir nach wie vor die SVP, die im Asylthema sehr konservativ ist. Sie ergreift sogar das Referendum gegen das beschlossene Asylgesetz. Das wird so weitergehen. Das ist das Thema der SVP, sie wird eine ganz harte Linie fahren wollen.

Auch hier wird die FDP nicht überall Hand bieten, wahrscheinlich ähnlich wie bei den Bilateralen. Obwohl die FDP hier natürlich stärker nach rechts ziehen wird.

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Die rechten Parteien können im Nationalrat auf eine Mehrheit von 101 Stimmen setzen, falls alle am gleichen Strick ziehen. Was bedeutet dies?

Es gibt ganz viele Möglichkeiten für Koalitionen. Auch die Streitereien zwischen SVP und FDP werden weitergehen. Die Forderung, dass man einen bürgerlichen Schulterschluss findet, wird es in bestimmten Themen geben, in anderen nicht. Diese absolute Mehrheit von 101 Stimmen wird es kaum oder sicher nicht durchgängig geben.

Nun spricht alles bereits von der Bundesratswahl vom 9. Dezember. Die SVP als stärkste und nun noch stärkere Kraft verlangt schon lange einen zweiten Sitz in der Landesregierung. Ist jetzt der Moment dazu gekommen?

Es gibt in dieser Diskussion verschiedene Facetten. Was mich gestern überrascht hat, ist, dass als die SVP sagte, sie habe Anrecht auf zwei Bundesratssitze und die Frage kam, ob sie dann auch mehr Verantwortung im Sinn von Kompromissen übernehmen würde, Parteipräsident Toni Brunner extrem ausgewichen ist.

Die andere Facette: Wir haben einen sehr stabilen Bundesrat. Es gibt kaum Bundesräte, die hinstehen und das Kollegium verraten, was es früher sehr oft gab. Das bedeutet, dass diese Idee von Kollegialregierung, wie sie im Schweizer System angelegt ist, sehr gut funktioniert. Und der Spruch ‘Never change a winning team’ ist nicht unbedingt von der Hand zu weisen.

Man muss jetzt die Entscheidung von Eveline Widmer-Schlumpf abwarten. Wenn sie motiviert ist, noch einmal vier Jahre zu arbeiten, könnte ich mir schon vorstellen, dass sie noch einmal eine Chance hat, gewählt zu werden.

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