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Wasserfälle: Welcher ist der Höchste im ganzen Land?

Der Rheinfall – unbestritten jener Fall mit der grössten Abflussmenge. Keystone

Im Wettkampf um den höchsten Wasserfall der Schweiz ist nicht immer klar, welcher die Nase vorne hat. Je nach Definition ist es mal der eine, mal der andere. Ob hoch oder nicht, die tosenden Gewässer spielen eine wichtige Rolle bei der Vermarktung des Landes.

“Des Menschen Seele gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es, zum Himmel steigt es, und wieder nieder zur Erde muss es, ewig wechselnd”, schrieb Johann Wolfgang von Goethe, inspiriert vom Spiel von Wind und Wasser der wohl bekanntesten Sehenswürdigkeit des Lauterbrunnentals im Berner Oberland, dem Staubbachfall.

Sein Gedicht “Gesang der Geister über den Wassern” wurde später von Franz Schubert vertont.

Und der britische Poet Lord Byron verglich das tosende Wasser in seinem Werk “Manfred” mit dem “Schweif jenes fahlen Pferdes, das der Tod in der Apokalypse” reitet.

Um die Gunst der Touristen wirbt das Lauterbrunnental als “Tal der 72 Wasserfälle”. Darüber, ob dies ein Rekord ist, schweigt sich das Werbematerial allerdings aus.

Der Staubbachfall hat seinen Namen von den vielen feinsten Wassertropfen, die beim Aufprall auf die Felsen vom Winde verweht werden – und dann wie eine aufgewirbelte Staubwolke aussehen. Wie Goethe und Byron lassen sich bis heute unzählige Touristen von diesem stäubenden Naturspektakel faszinieren.

Und unzählige Schweizer Kinder haben in der Schule gelernt, der Staubbachfall sei der höchste Wasserfall der Schweiz. Doch nun scheint es, als müssten die Geografie-Bücher umgeschrieben werden.

Einstieg ins Unzugängliche

Der Geograf und Wasserfall-Spezialist Florian Spichtig und sein Kollege Christian Schwick verbrachten mehrere Jahre damit, die Wasserfälle der Schweiz zu untersuchen. 2007 veröffentlichten sie ihren Bildband “Wasserfälle der Schweiz”, der 129 der spektakulärsten Fälle präsentiert.

Ihre Recherchen führten dazu, dass der Staubbachfall nicht nur um einen Platz von der Spitzenposition verdrängt wurde, sondern gleich um zwei.

Nicht jeder kann der Höchste oder Grösste sein – zudem kommt es immer darauf an, zu welcher Definition des Wasserfalls man greift, wie Spichtig im Gespräch mit swissinfo.ch erklärt.

Es ist nicht überraschend, dass es so lange dauerte, bis die “Rivalen” des Staubbachfalls zu Anerkennung kamen. Zwar war bekannt, dass die Seerenbachfälle am Walensee im Kanton St. Gallen höher sein könnten – doch Wasserfälle zu vermessen, ist nicht gerade einfach.

Die Seerenbachfälle bestehen aus einer dreistufigen Kaskade. Obschon die Gesamthöhe von 585 Metern bekannt war, blieb die exakte Höhe der unzugänglichen mittleren Stufe ein Geheimnis, bis die beiden unerschütterlichen Geografen sich der Sache annahmen.

“Wir mussten uns dem Fall entlang abseilen; nur so konnten wir diese Stufe vermessen. Danach wussten wir, dass sie 305 Meter misst und so 8 Meter höher ist als der Staubbachfall”, erklärt Spichtig.

Korrektur der Korrektur

Doch schon 2009 mussten die St. Galler ihren Rekord wieder an das Berner Oberland abtreten: Heute gilt der Mürrenbachfall – wiederum im Lauterbrunnental – als höchster Wasserfall der Schweiz.

“Wir haben entdeckt, dass uns bei unserer ersten Definition ein Fehler unterlaufen war”, räumt Spichtig ein. Nach ihren ersten Recherchen hatten die Geografen den Mürrenbachfall als Kaskaden-Fall eingestuft. Ein Kaskaden-Fall besteht aus mehreren Stufen mit jeweils einigen Metern Wasser in der Horizontalen zwischen jeder Stufe.

Eine vertiefte Inspektion brachte an den Tag, dass die beiden sich beim ersten Mal geirrt hatten: “Wir durften eine Sonderfahrt mit der Gondelbahn machen, die auf halbem Weg nach oben einen Halt einlegte, so dass wir uns alles noch einmal aus nächster Nähe anschauen konnten. Und dabei wurde uns klar, dass es keine horizontale Ebene gab, wie wir zuvor gemeint hatten”, erläutert Spichtig.

Um ganz sicher zu sein, wie hoch der Mürrenbachfall ist, machten sie ihre Vermessungen von drei Standpunkten aus. Sie kamen auf 417 Meter.

Höchster frei fallender Wasserfall

Dennoch hat der Staubbachfall seinen Anspruch auf Berühmtheit nicht ganz verloren: “Der Staubbachfall ist der höchste frei fallende Wasserfall. Das heisst, dass ein Teil des Wassers, nicht alles, in die Tiefe stürzt, ohne die Felsen zu berühren, bevor es unten ankommt”, betont Spichtig.

Mit derart vielen verschiedenen Arten von Wasserfällen sind Vergleiche eine schwierige Angelegenheit. Immerhin ist es heute einfacher geworden, die Vermessungen zu machen, wenn man zum richtigen Standpunkt kommen kann.

“Wir haben ein Laser-Gerät, das bis aus einer Distanz von 1200 Metern messen kann.” Das Gerät hat auch eine Einrichtung zur Vermessung von Winkeln, die das Gefälle anzeigen.

“Damit können wir an einer Stelle unter einem Wasserfall stehen und von dort nach oben und unten vermessen. So können wir die Höhe bis auf 0,5 Meter genau ermitteln”, beschreibt Spichtig das Vorgehen.

Rheinfall – der Grösste

Die Höhe der Sturzbäche ist jedoch nicht die einzige Art, einen Wasserfall zu vermessen. Wenn man die Wassermenge betrachtet, kann sich keiner der andern Schweizer Wasserfälle mit dem Rheinfall bei Schaffhausen nahe der Grenze zu Deutschland messen.

Der Rheinfall ist zwar nur 23 Meter hoch, aber 150 Meter breit. Am eindrücklichsten ist das Naturschauspiel im Sommer mit einer Abflussmenge von rund 600’000 Litern Wasser pro Sekunde. Die höchste je registrierte Abflussmenge wurde 1965 gemessen: Es waren 1’250’000 Liter pro Sekunde.

Im Vergleich mit den Giganten unter den Wasserfällen der Welt ist dies winzig – die Niagarafälle etwa haben eine sechs Mal höhere Abflussmenge, und die Inga-Fälle am Kongo führen 115 Mal so viel Wasser wie der Rheinfall. Allerdings handelt es sich bei den Inga-Fällen um eine Reihe von Stromschnellen. Daher werden die Inga-Fälle nicht von allen als Wasserfälle betrachtet.

Europa ist insgesamt kein Kontinent der grossen Wasserfälle. Der Rheinfall ist nicht nur der Fall mit der grössten Wassermenge in der Schweiz, sondern auf dem gesamten europäischen Festland. Konkurrenten hat er nur in Island.

Auch dort haben die Fälle seit Jahrhunderten Reisende angezogen und Künstler inspiriert. So im 19. Jahrhundert den britischen Maler J.M.W. Turner, der diese Naturspektakel in Skizzen und Bildern festhielt.

Wahrscheinlich hat der touristische Wert der Wasserfälle in Island diese bis heute davor bewahrt, dass immer wiederkehrende Pläne, sie zur Energieproduktion zu nutzen, nicht umgesetzt wurden.

Der Rheinfall kann übrigens noch einen zweiten Rekord sein eigen nennen: Es ist der am meisten besuchte Wasserfall der Schweiz. Der Staubbachfall kann dafür einen weniger greifbaren Rekord für sich verbuchen: die Ehre, einen der grössten Dichter aller Zeiten inspiriert zu haben.

Julia Slater, swissinfo.ch
(Übertragen aus dem Englischen: Rita Emch)

Wasserfälle entstehen normalerweise dort, wo Gewässer über Felsen aus unterschiedlich harten Gesteinsschichten fliessen. Weichere Schichten werden erodiert, die härteren widerstehen der Kraft des Wassers.

Wasserfälle sind also meist in Gegenden mit stark geschichtetem Gestein zu finden.

Fast zwei Drittel der Schweizer Wasserfälle befinden sich in einem Gebiet, dessen Gesteinsdecken geologisch als Helvetikum bezeichnet werden, das sich vom Südwesten des Kantons Wallis über die nördlichen Alpen bis hin zum Rheintal an der Grenze zu Österreich erstreckt.

Ein Fünftel der Wasserfälle befinden sich in einem als Penninikum bezeichneten Gebiet (Südosten des Wallis und Nordtessin).

In den zentralen Alpen und im Mittelland gibt es nur wenige grosse Wasserfälle.

Die Grösse eines Wasserfalls hängt nicht nur von der Geologie ab, sondern auch von der Niederschlagsmenge und vom Einzugsgebiet eines Gewässers.

Der Rheinfall verdankt seine Grösse dem weiten Einzugsgebiet.

Es ist schwierig, Wasserfälle miteinander zu vergleichen, weil sie alle möglichen Formen haben können.

Ein Hauptunterschied wird gemacht zwischen Fällen, bei denen das Wasser frei abstürzt und jenen, bei denen das Wasser stufenartig, in einer Kaskade, nach unten fällt.

Beide Varianten können entweder aus nur einem Wasserstrom bestehen (einfach), aus mehreren, parallel verlaufenden Strömen (komplex), aus mehreren Strömen, die sich trennen und wieder zusammenfliessen (verzweigt), oder als breiter Strom (Vorhang).

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