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Weckruf bei den Freisinnigen

"Wach auf Freisinn! Kämpfen Sie mit uns – aus Liebe zur Schweiz!“: Aufruf von FDP-Parteipräsident Fulvio Pelli in Luzern. Keystone

Die Freisinnigen sind seit 1848 an der Macht. Die FDP hat einen grossen Anteil an Wohlstand und Stabilität in der Schweiz und will daran weiter teilhaben – aus Liebe zur Schweiz. Doch die Wählerschaft erwidert diese Liebe immer seltener.

“Wecken wir schlafende Freisinnig-Liberale. Wach auf, Freisinn: Gib Gegensteuer zum falschen Trend!”. Mit diesem Appell beendete Parteipräsident Fulvio Pelli vor kurzem seine Rede an der Delegiertenversammlung in Luzern. Mit “Aufstehen, durchatmen, kämpfen!” hatte er seine Grundsatzrede überschrieben.

Der Kampfeswillen hat einen Grund. Die gute alte Dame der Schweizer Politik ist müde. Sie kann auf eine lange und erfolgreiche Geschichte zurückblicken, die mit der Gründung des modernen Bundesstaats 1848 begonnen hat. Die Freisinnigen waren seither immer in der Regierung vertreten und haben die nationale Politik entscheidend geprägt. Wohl in keinem anderen Land der Erde kann eine politische Partei eine vergleichbare Geschichte schreiben.

Zuerst waren die Freisinnigen progressiv, dann konservativ. Sie verstanden es aber stets, ihre Gegner in Schach zu halten. Zumindest bis vor rund 20 Jahren.

Die FDP hat immer den Liberalismus verteidigt. Doch in Bezug auf Globalisierung und die Öffnung nach Europa hatte sie keine Antworten auf die Ängste in der Bevölkerung. Als Folge erstarkte rechts von der FDP die Schweizer Volkspartei (SVP). Die FDP setzte sich für technologische Innovation ein, war aber für Umweltanliegen wenig sensibel. So trug sie dazu bei, dass in der politischen Mitte die Grünliberalen entstehen konnten.

“Mit Sicherheit hat sich unsere Partei ein wenig auf ihren Lorbeeren ausgeruht und die Gelegenheit zu einer Erneuerung verpasst”, räumt der Tessiner FDP-Nationalrat Ignazio Cassis ein. “Die Partei braucht einen Erneuerungsprozess, nicht in Bezug auf ihr liberales Credo, das stets aktuell bleibt, sondern in Bezug auf die Vermittlung ihrer Positionen gegenüber der Wählerschaft”, so Cassis.

Unbequeme Position

Die Freisinnig-Liberalen verlieren seit 1983 Wähleranteile. Zuerst an rechte Parteien wie die SVP, neuerdings auch an aufstrebende Jungparteien wie die Grünliberalen. Vor allem hat die FDP ihre Stammwählerschaft verloren. Die Fluktuation ist sehr hoch. Die FDP ist ganz offensichtlich in eine unbequeme Mitte-Position gerutscht.

“In einer stark medialen Gesellschaft zahlt es sich nicht aus, in der politischen Mitte zu stehen. Nur wer am lautesten schreit, erhält die entsprechende mediale Aufmerksamkeit. In der Mitte zu stehen, bedeutet hingegen, Ausgleich zu suchen, und für Entscheide einzustehen, die der Stabilität des Landes dienen”, hält Ignazio Cassis fest.

Die FDP muss genau wie die Christlichdemokratische Partei (CVP) rechts und links Allianzen schmieden, um Konsenslösungen zu finden. Diese Strategie zahlt sich bei Wahlen nicht unbedingt aus. Eine Profilierung in der politischen Mitte erweist sich zunehmend als schwierig.

Dazu kommt: Während die Rechten und die Linken zumeist einheitlich auftreten, kommt es ausgerechnet in der politischen Mitte immer wieder zu Dissonanzen. In der FDP trifft man Politiker wie Dick Marty, der beim Europarat für die Einhaltung der Menschenrechte kämpft, während andere mit eher fremdenfeindlichen Positionen der Rechten liebäugeln. “Wir müssen aufhören, gegen eigene Vertreter zu politisieren, und gemeinsam kämpfen”, sagt FDP-Wahlkampagnenleiter Vincenzo Pedrazzini.

Die Wirtschaft und die FDP

Die FDP gilt als Wirtschaftspartei. Und daher hat sie wahrscheinlich mehr als andere Parteien unter den Wirtschaftskrisen und Diskussionen der letzten Jahre gelitten. Stichworte: Finanzkrise, Managerlöhne, Fall der Swissair und der Fast-Konkurs der UBS.

“All diese Ereignisse haben unserem Image nicht gut getan. Doch die Politik kann nicht jeden Fehler der Wirtschaft vorhersehen. Ansonsten könnte die Wirtschaft nicht mehr atmen”, meint der Luzerner FDP-Nationalrat Georges Theiler.

“Wir sollten auch nicht vergessen, dass die wirtschaftliche Situation in der Schweiz viel besser ist als in vielen anderen Ländern. Unser Problem ist, dass wir diese Erfolge, die sich zum grossen Teil der von der FDP verfolgten Politik verdanken, besser kommunizieren müssen.”

In der Tat war die Kommunikation in den letzten Jahren keine Stärke der FDP. Bei ihrer Delegiertenversammlung gingen sie das Problem der Sicherung der Sozialversicherungen mit komplizierten Tabellen und Statistiken an – das schien weit entfernt von der Wählerschaft und den aktuellen Sorgen der Leute.

“Wahrscheinlich kann man nur wenige Monate vor den Wahlen mit diesem Thema nicht die Aufmerksamkeit auf sich lenken”, meint Theiler. Und doch handele es sich um ein extrem wichtiges Thema. “Wenn wir keine geeigneten Massnahmen ergreifen, werden wir bald gravierende Schwierigkeiten bei den Sozialversicherungen haben.”

Wohlstand und Stabilität

Die FDP will mit einer ernsthaften und verantwortungsvollen Politik fortfahren, die dem Land auch in Zukunft Wohlstand und Stabilität garantiert. “Aus Liebe zur Schweiz”, wie der FDP-Wahlslogan sagt, auch wenn die Wähler diese Liebe immer weniger erwidern.

Trotz der Wahlniederlagen hat die Parteispitze darauf verzichtet, in einen Populismus abzugleiten. Im Gegenteil: Immer wieder erklären die Verantwortlichen die drei Prioritäten ihrer Wahlkampagne. Mehr Arbeitsplätze, sichere Sozialwerke und weniger Bürokratie.

    

“Sicherlich ist es einfacher, Slogans wie ‘weniger Ausländer’ oder ‘mehr Geld für die Armen’ zu lancieren. Eine Partei mit Regierungsverantwortung kann dies aber nicht einfach so tun”, meint der Genfer FDP-Nationalrat Christian Lüscher.

Die Partei “FDP.Die Liberalen” entstand 2009 durch den Zusammenschluss der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) und der Liberalen Partei der Schweiz (LPS).
 
Damit ist die Partei auf dem Papier zwar die jüngste Schweizer Partei, doch in Wirklichkeit stellt sie das Erbe der Freisinnigen dar, die für die Geburt der modernen Eidgenossenschaft verantwortlich zeichneten.
 
Die liberalen Kräfte, die sich gegen die Konservativen durchsetzen, gründeten 1848 den Bundesstaat und arbeiteten die erste Bundesverfassung aus.
 
Während die Liberale Partei der Schweiz stets eine Minderheitenpartei blieb, dominierten die Freisinnigen lange das politische Leben der Schweiz.
 
Von 1848 bis 1891 bestand die Schweizer Regierung nur aus Freisinnigen. Danach stellten die Freisinnigen bis 1943 die Mehrheit der Regierungsvertreter.
 
Seither sind sie im Bundesrat (Regierung) mit mindestens zwei Ministern (von sieben) vertreten.
In den letzten 30 Jahren büsste die Partei aber stark an Popularität ein.
 
Der Wählerstimmenanteil fiel von 24% (1979) auf 15,7% (2007). Die mit der FDP fusionierten Liberalen kamen 2007 auf 1,8%.
 
Die FPD hat sich von einer tendenziell progressiven Partei im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Partei gewandelt, die politisch mitte-rechts steht und Wirtschaftsinteressen vertritt.

Die Partei “FDP.Die Liberalen” hat für den Wahlkampf 2011 drei Kernthemen definiert:

Die Partei will die Rahmenbedingungen für eine gesunde Wirtschaft stärken und so Arbeitsplätze schaffen.

Sie will die Sozialwerke sichern und den Rentenkollaps bekämpfen, um den künftigen Generationen die Bezüge zu sichern.

Schliesslich soll überflüssige Bürokratie abgebaut werden. Denn Bürokratie behindert laut FDP Eigeninitiative und Unternehmertum.

(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

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