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Wider die Vogel-Strauss-Politik in der Klimapolitik

"Höher gelegene Gletscher ausgepowert": Thomas Kesselring spürt dem Klimawandel im Rottal bei Lauenen (Berner Oberland) nach. zVg

2006 war der Klimawandel dank Al Gore in aller Leute Mund. Heute aber steckten Politik, Wirtschaft und Gesellschaft den Kopf in den Sand, sagt der Ethiker Thomas Kesselring. Dabei schmelze das Eis in der Arktis und im Himalaya schneller als prognostiziert.

Auch wenn die Schweiz nur einen Tausendstel der Weltbevölkerung stelle, sei sie aufgrund ihrer Ressourcen und ihres Know-how prädestiniert, bei der Reduktion des klimaschädigenden CO2-Ausstosses eine Pionierrolle zu übernehmen, sagt der Berner Ethikprofessor und BuchautorThomas Kesselring.

swissinfo.ch: Sie stellen fest, dass viele Menschen den Klima-Alarm nicht ernst genug nehmen. Wen meinen Sie genau: die Menschen allgemein, die Politiker, die Wirtschaftsführer oder die Medienleute? 

Thomas Kesselring: Die Medienleute sind vielleicht die aktivsten, insbesondere in Deutschland. Aber alle könnten mehr tun. In der Politik und in der Wirtschaft passiert eindeutig zu wenig, in den Bildungsinstitutionen bewegt sich zum Teil überhaupt nichts.

Die Bürgerinnen und Bürger ihrerseits haben die Pflicht, sich zu informieren, was aber kaum geschieht.

Bezüglich des Themas Klimawandel herrscht eine gewisse Sättigung, viele Menschen haben die Haltung, ‘das wissen wir doch alles schon’. Die grosse Mehrheit hält sich für informiert, verfügt aber oft nur über ein Halbwissen. So wusste in einer Umfrage nur jede 20. Person, wie viel CO2-Ausstoss reduziert werden muss, wenn wir den globalen Anstieg der Temperatur auf zwei Grad begrenzen wollen. Es sind übrigens 80%.

Kommt hinzu, dass das Eis in der Arktis viel schneller abschmilzt, als die Forscher des Weltklimarats IPCC noch vor viereinhalb Jahren angenommen hatten. Ist es verschwunden, so erwärmt sich der Ozean: Die Wasseroberfläche reflektiert nur 20% des Sonnenlichts, Eis dagegen 80%. Steigt die Meerestemperatur, so dürften sich auch die Luftmassen schneller erwärmen.

swissinfo.ch: Wie steht es um das Abschmelzen der Gletscher im Himalaya? Darum gab es ja eine grosse Polemik. 

T.K.: Es wurde diskutiert, ob dieser Prozess 35 oder 350 Jahre dauern werde. Es gibt Schätzungen, dass schon in 50 bis 60 Jahren nur noch ein Drittel der Himalaya-Gletscher übrig sein werde. Bedenkt man, dass zwischen 40 und 50% der Weltbevölkerung von Flüssen abhängen, die aus diesen Gletschern stammen, ist das ist ein sehr bedrohliches Szenario. 

swissinfo.ch: Gibt es generell einen Vogel-Strauss-Reflex angesichts von existenziellen Gefahren? 

T.K.: Ich denke schon. Auf einen Artikel, den ich in der Neuen Zürcher Zeitung zum diesem Thema publiziert hatte, schrieben mir zahlreiche Leserinnen und Leser, dass sie ihr Verhalten nicht ändern würden, da die Menschen in anderen Ländern dies auch nicht täten.

In Gesprächen, insbesondere mit älteren Menschen, höre ich oft auch, das Thema sei unangenehm und verursache Stress. Das tut es tatsächlich. Der Stress wäre aber geringer, würde man es aktiv anpacken.

swissinfo.ch: 2006 hat Al Gore mit dem Film “An Inconvenient Truth” das Thema der verheerenden Folgen des Klimawandels für Mensch und Erde global lanciert, 2007 wurde er zusammen mit dem IPCC mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. Was läuft falsch, dass die Risiken des Klimawandels so rasch wieder aus dem Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit verschwunden sind? 

T.K.: Den verbreiteten Überdruss am Thema, verbrämt mit Halbwissen, habe ich bereits angesprochen. Es wäre eine Fehleinschätzung der menschlichen Psyche zu glauben, ein Film könne das individuelle Verhalten irreversibel ändern.

Wir sind heute auch stark vom Markt konditioniert, der in rascher Abfolge neue Produkte, Trends, Moden und Stile hervorbringt. Wenn ein Thema nach zwei, drei Jahren immer noch im Gespräch ist, reagieren wir rasch gelangweilt.

swissinfo.ch: Schwellenländer, die ihre Industrien und ihre Infrastruktur gerade neu aufbauen, greifen vermehrt auf CO2-reduzierende Technologien zurück. Ist die westliche Industriegesellschaft besonders resistent gegen diese Einsicht?

T.K.: China ist führend, weil das Land ernsthafte ökologische Probleme hat. China leidet unter einer enormen Wasser- und Landknappheit. Die Chinesen haben begriffen, dass ein Baum wertvoller ist, wenn er nicht gefällt, sein Holz nicht verkauft wird. China forstet im eigenen Land auf, lässt dafür allerdings Wälder in Afrika abholzen.

China ist führend bei der Suche nach alternativen Energien und nachhaltiger, platzsparender Mobilität, beispielsweise mit Elektro-Fahrrädern.

Indien gehört auch zu den Cleantech-Pionierländern, wenn auch die ökologischen Probleme dort nicht ganz so gravierend sind wie in China.

swissinfo.ch: Wie sieht es mit Cleantech in Brasilien aus, dem Hoffnungsträger der Weltwirtschaft in Südamerika?

T.K.: Das Land ist viel dünner besiedelt als Indien und China. Aber die riesigen Naturflächen werden rasch zerstört. Die Hälfte des Amazonas-Gebietes, in dem sich rund zwei Drittel der gesamten Süsswasservorräte der Erde konzentrieren, liegt in Brasilien. Dazu kommen riesige Grundwasservorkommen, die noch kaum angezapft sind. In China und Indien dagegen haben sich die Grundwasserspiegel beängstigend abgesenkt.

Brasilien ist also in einer viel komfortableren Situation. Aber es forciert den mobilen Individualverkehr bis zum Kollaps. Eine Stadt der Grösse Zürichs verzeichnet monatlich eine Neu-Zulassung von 3000 Autos, die Staus sind unerträglich.

swissinfo.ch: Perspektivenwechsel: Was würde es nützen, wenn die Schweiz mit ihren knapp 8 Millionen Einwohnern voll auf Cleantech setzte, während sich die anderen Länder mit ihren Milliarden von Einwohnern nicht oder noch nicht darum kümmern? 

T.K.: Es heisst immer wieder, der Beitrag der Schweizer Bevölkerung spiele keine Rolle, weil  sie nur ein Tausendstel der Weltbevölkerung ausmache. Dies trifft aber auf jeden beliebigen Tausendstel der Weltbevölkerung zu. Dieses Argument ist faul, es verhindert jede Art von Veränderung.

Die Schweiz gehört wirtschaftlich immer noch zu den am besten positionierten Ländern. Sozialprodukt und Einkommen sind hoch, unsere Böden sind fruchtbar, und Wasser haben wir mehr als genug.

Wenn ein Land die Möglichkeit hat, mit einem Pionierschritt voran zu gehen, dann die Schweiz. Wir haben die Mittel und das Knowhow, und wir sind über den Klimawandel besser informiert als die Menschen in den meisten anderen Ländern. Ausserdem werden wir am Markt gewinnen, wenn wir jetzt voran gehen.

swissinfo.ch: Mammut, Schweizer Hersteller von Outdoor-Ausrüstung, war auf einer Economiesuisse-Liste von Unternehmen gegen das CO2-Gesetz. Nach Protesten von Facebook-Usern liess sich die Firma von der Liste streichen. Können die Neuen Medien zu einer klimaverträglichen Wirtschaft beitragen? 

T.K.: Die elektronischen und sozialen Medien sind eine Hoffnung, die ich aber nicht überschätzen würde. Sie haben in Tunesien, Ägypten und später in Libyen eine grosse Rolle gespielt. Handys, Facebook und auch der TV-Sender al Jazeera haben hier grosse Verdienste.

Nicht zu unterschätzen ist die Rolle von Avaaz – einer Internet-Plattform, die Petitionen zu aktuellen politischen Themen lanciert. In wenigen Wochen können mehrere Hunderttausend Unterschriften zusammen kommen, mit denen dann Politiker oder Wirtschaftsvertreter bombardiert werden. Dies scheint Erfolg zu haben. Die elektronischen Medien sind da. Es gilt, sie zur Mobilisierung besorgter Menschen zu nutzen.

Die neusten Ergebnisse der Schweizerischen Akademie der Wissenschaften zeigen, dass von denjenigen Gletschern, die überwacht worden sind, sich 86 zurückgebildet haben, sechs sind gleichgeblieben und drei sind leicht gewachsen.
 
Die grösste Abnahme war beim Gauligletscher im Kanton Bern zu verzeichnen: Er schrumpfte auf 196 Meter.
 
Die Akademie schreibt, die Gletscherzunge sei von einem See umgeben gewesen. Der See habe seinen Rückzug beschleunigt.
 
Am meisten gewachsen ist der Trientgletscher im Wallis. Er hat um 14 Meter zugenommen. In den vorhergehenden Jahren hatte er sich zurückgezogen. Die Gletscherzunge ist zur Zeit so positioniert, dass er wahrscheinlich wächst und unregelmässig abbricht.
 
Gemessen wird nicht nur die Länge. Die Massenbilanz – der Unterschied zwischen dem Schnee, der sich anhäuft und dem Eis, das schmilzt – wird auch gemessen.
 
Seit 1990 wurde ein massiver
Rückgang der Gletscher beobachtet.

Der 63-Jährige lehrt Philosophie an der Universität Bern und Ethik an der Pädagogischen Hochschule Bern.

Dazu kommen Vorträge und Lehrtätigkeit in drei Kontinenten.

Kesselring ist Autor u.a. von “Ethik der Entwicklungspolitik” (Verlag C.H.Beck) und “Handbuch Ethik für Pädagogen” (Wiss. Buchgesellschaft).

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