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Den wahren Wert des Rohstoffhandels einschätzen

Das Hauptquartier von Glencore International AG in Baar, Kanton Zug. Keystone

Die rasch wachsende Rohstoff-Handelsindustrie in der Schweiz hat in den letzten Jahren oft für Schlagzeilen gesorgt. Der reale Beitrag der Branche an die Wirtschaft ist allerdings bisher nicht voll erkennbar.

Die grundlegenden Zahlen sind zwar beeindruckend: Die Bruttogewinne stiegen von 1,3 Mrd. Franken 2001 auf 20 Mrd. Franken im letzten Jahr.

Der Sektor trägt fast 3,5% zur Wirtschaftsleistung in der Schweiz bei und übertrifft damit Tourismus und Maschinenbau.

Genf hat sich zur wohl weltweit grössten Plattform für den Handel mit Erdöl entwickelt, Unternehmen in Zug haben einen grossen Anteil des Handels mit Mineralien und Metallen erobert. Daneben spielen auch Lugano, Zürich, Luzern und Winterthur eine prominente Rolle.

Nichtregierungs-Organisationen haben in den letzten Jahren ihrem Zweifel Ausdruck gegeben, was den Anteil der Einnahmen der multinationalen Handels-Unternehmen angeht, der in die Finanzierung der nationalen Infrastruktur und in die Kassen der lokalen Gemeinden zurückfliesst.

“Die Rohstoff-Industrie ist mit Abstand der am schnellsten wachsende Wirtschaftssektor der Schweiz, doch die Auswirkung nach innen ist vor allem symbolisch”, sagt Oliver Classen, Mediensprecher der Erklärung von Bern, gegenüber swissinfo.ch.

“Der Anteil des Profits, der in die Schweizer Wirtschaft durchsickert, kann zwar nicht als unerheblich bezeichnet werden, er steht aber in keinem Verhältnis zur Menge des Geldes, das die Händler generieren, und auch nicht im Vergleich zu den Beiträgen anderer Industriesektoren.”

Steuerdebatte

Daten zu den Geschäften der verschwiegenen Rohstoff-Riesen bleiben begrenzt, da diese Firmen sich oft in privater Hand befinden und mit den Standortkantonen geheime Steuerdeals aushandeln. Die Schweizer Regierung hat einen Bericht über die Industrie in Auftrag gegeben, der Ende Jahr vorliegen und einige Wissenslücken füllen soll. Doch noch bleibt offen, wie viele Informationen öffentlich zugänglich sein werden.

Bisher behält nur die Schweizerische Nationalbank den Sektor als Ganzes im Auge, indem sie das Volumen des Transithandels misst, das heisst, Kauf und Verkauf von Waren, die weder in der Schweiz produziert noch hier ein- oder ausgeführt werden.

Eine Zahl, die regelmässig auftaucht, ist 11 Prozent – dies ist der durchschnittliche kantonale Steuer-Vorzugstarif für Unternehmen mit einen “Sonderstatus”, welche die Mehrheit ihrer Profite ausserhalb der Schweiz machen. Unternehmen, die nicht in den Genuss einer solchen privilegierten Regelung kommen, bezahlen etwa 24% Steuern.

Diese “freundliche” Steuerbehandlung für einige der Rohstoff-Riesen – und für multinationale Unternehmen anderer Industrien – geht in einigen Fällen sogar den Schweizer Bundesbehörden zu weit. So wurde früher in diesem Jahr der brasilianische Minen-Gigant Vale vor Gericht gezogen, um rund 200 Millionen Franken mehr Steuern einzutreiben.

Rohstoffhandelsfirmen haben manchmal das Gefühl, man werfe ihnen ungerechterweise vor, dem Gastland nicht genug zurückzugeben. Die Branchenvereinigung Lugano Commodity Trading Association (LCTA) erklärte gegenüber swissinfo.ch, ein Viertel aller Unternehmenssteuern, welche die Stadt 2009 eingezogen habe, sei offiziellen Statistiken zufolge auf die Rohstoffbranche entfallen.

Ausländische Konkurrenz

Auch die Europäische Union macht Druck auf die Schweiz, kantonalen Steuerpraktiken für Unternehmen einen Riegel zu schieben, die aus Sicht der EU unlauter sind und wettbewerbsverzehrend wirken. Die oft gewährten Steuererleichterungen ziehen viele ausländische Firmen in die Schweiz, nicht nur aus der Rohstoffbranche.

Falls sich die Schweiz dem Druck beugen und ihr Steuersystem ändern würde, fürchten viele Kantone, vor allem Genf und die Waadt, dass ihnen Steuereinnahmen im zweistelligen Millionenbereich pro Jahr entgehen könnten.

Die Schweiz könnte in einem solchen Fall grosse multinationale Konzerne und deren Einnahmen verlieren, warnte Marco Passalia, der Generalsekretär der LCTA.

“Wir sollten nicht vergessen, dass Länder wie Singapur und Malaysia starke steuerliche Anreize bieten, die solche Unternehmen anziehen könnten”, erklärte Passalia gegenüber swissinfo.ch.

Auch wenn der Verdacht besteht, dass viele Rohstoffhandelsfirmen nicht ihren “vollen” Anteil an Unternehmenssteuern entrichten, verdienen ihre Angestellten gut, müssen Einkommenssteuern bezahlen und geben Geld in der Schweiz aus.

Trickle-down-Effekt

Im letzten Jahr sickerten die Milliarden, die Glencore-Chef Ivan Glasenberg – und andere Topmanager – beim Börsengang des Rohstoffgiganten machten, bis zur Bevölkerung seiner Wohngemeinde Rüschlikon im Kanton Zürich durch.

Dank dem unerwarteten Steuergeldregen, welcher der Gemeinde einen Überschuss von 55 Mio. Franken in die Kassen spülte, konnte die Gemeindeversammlung einer Senkung der Gemeindesteuern um 5% zustimmen.

Doch solch extreme Beispiele sind selten. Und Kritiker argumentieren, dass es in der Branche nicht genügend Stellen gebe, damit dies auf die Wirtschaft des Landes als Ganzes eine grosse Auswirkung hätte. Herauszufinden, wie viele Angestellte die Rohstoffhandelsfirmen in der Schweiz beschäftigen, ist fast so schwierig, wie zu berechnen, wie viel Steuern sie zahlen.

Der Genfer Branchenverband, die Geneva Trading and Shipping Association (GTSA), schätzt den Personalstand in der dortigen Region auf etwa 5000, dazu kämen nochmals mindestens halb so viele Leute in verwandten Sektoren wie Finanzen, Versicherungen, Inspektion und juristische Dienstleistungen.

Die rund 70 Handelsfirmen in Lugano beschäftigen nach Angaben der LCTA rund 1000 lokale Angestellte. Der erst jüngst gegründete Zuger Branchenverband, Zug Commodity Association, schätzt, dass es in der Deutschschweiz insgesamt etwa 100 Firmen gibt, hat aber noch keine Angaben zum Personalbestand.

Wie mit vielen Bereichen im Umfeld der verschwiegenen Rohstoff-Industrie ist mehr Transparenz der Schlüssel, um zu erfassen, welche Auswirkungen die Branche auf das Leben der Menschen hat.

Sofern die Bundesbehörden das wahre Bild der Industrie nicht aufdeckten und die Ergebnisse veröffentlichten, riskiere die Schweiz noch mehr, als “Transparenz-Oase” kritisiert zu werden, unterstreicht Oliver Classen von der Erklärung von Bern.

Schweizer Städte wie Winterthur, Basel, Luzern und Lausanne haben eine lange Tradition im Handel mit Rohstoffen wie Baumwolle oder Kaffee, besonders wegen der zentralen Lage der Schweiz in Europa.

1851 begannen die Brüder Salomon und Johann Georg Volkart in Winterthur, mit Baumwolle, Kaffee und Gewürzen zu handeln. 1857 eröffneten sie Niederlassungen in Indien und Sri Lanka.

In Basel war die Union Handels-Gesellschaft einer der ersten Kakaobohnen-Händler.

Nach den beiden Weltkriegen begannen Rohstoffhändler, die neutrale Schweiz als Sitz in Betracht zu ziehen, weil Wirtschaft und politische Struktur des Landes die Konflikte recht unbeschadet überstanden hatten.

Bereits in den 1920er-Jahren hatten sich erste Getreidegrosshändler in Genf niedergelassen. So war es US-Firmen auch während des Kalten Krieges möglich, mit Ostblockländern Geschäfte machen.

Als die Ölindustrie in den arabischen Ländern zu boomen begann, liessen sich zahlreiche Ölhändler in Genf nieder, was die Stadt zur beliebten Destination für Reisende aus dem Nahen Osten machte.

In den 1960er-Jahren folgten ihnen Baumwollhändler, die aus Ägypten geflohen waren.

1990 kamen die russischen Ölkonzerne in die Schweiz. So entstand der Rohstoff-Handelsplatz in Zug.

Zu den grössten Rohstoffhandels- und Bergbau-Konzernen mit Sitz in der Schweiz gehören Glencore, Xstrata, Trafigura, Vitol, Gunvor, Litasco, Mercuria, ADM, Bunge, Cargill, Dreyfus, Holcim und die Kolmar Group.

(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)

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