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Der Reiz des Übernatürlichen

Lehmann Imfelds Analyse von viktorianischen Geistergeschichten lässt Rückschlüsse auf den Umgang der Gesellschaft mit Religion und Unsicherheit zu. Mauro Mellone/Swiss National Science Foundation

Die Schweizer Forscherin Zoë Lehmann Imfeld wurde für ihren Ansatz zur Deutung von Geistergeschichten ausgezeichnet. Ihre theologische Interpretation eröffnet neue Einblicke in so unterschiedliche Fachgebiete wie die Viktorianische Literatur oder die Astrophysik. 

Geistergeschichten sind zeitlos und eine fast überall populäre Form von Unterhaltung. Sie ziehen die Leserinnen und Leser mit einer Mischung von Furcht, Ränkespielen, Mystik und Amusement in ihren Bann. Die Postdoktorandin und Dozentin Zoë Lehmann Imfeld sieht aber noch mehr in dieser Literaturgattung.

Ihre Arbeit am Institut für Englische Sprachen und Literaturen der Universität BernExterner Link hat in der Fachwelt einen Paradigmenwechsel ausgelöst. Im Juni hat ihr der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF)Externer Link den prestigeträchtigen Marie Heim-Vögtlin-Preis für ihre Neuinterpretation von viktorianischen Geistergeschichten verliehen.

Die in London als Tochter eines schweizerischen Vaters und einer britischen Mutter geborene Lehmann Imfeld zog vor 13 Jahren in die Schweiz, wo sie heute mit ihrem Ehemann und zwei kleinen Kindern wohnt.

Lehmann Imfeld sagte gegenüber swissinfo.ch, sie habe die Geistergeschichten ursprünglich nicht mit einem theologischen Interesse gelesen, sondern nur auf generelle kulturelle Themen in den Geschichten geachtet. “Je mehr ich gelesen habe, desto klarer wurde mir aber, dass häufig Konzepte des Bösen und des Religiösen einander gegenübergestellt wurden”, erklärte sie. “Die Geistergeschichten wurden sehr oft so konzipiert, dass es an Stelle der Religion eine Leere gab, in der nun fürchterlich beängstigende Dinge geschahen.”

Als ihre Forschung fokussierter wurde, merkte sie, dass die Literaturstudierenden sich unwohl fühlten, die Geistergeschichten mit der theologischen Brille zu lesen. “An der Universität betrachtet man die Literatur als etwas sehr Weltliches. Es gibt die Ansicht, dass man mit einer theologischen Auslegung von Literatur zwangsläufig Aussagen über den eigenen Glauben macht.”

Der Horror des Alltäglichen

Lehmann Imfeld untersuchte Kurzgeschichten aus dem späten 19. Jahrhundert, in welchen typischerweise ein Protagonist aus dem Alltagsleben die Hauptrolle spielt. Dies ganz im Gegensatz zu den ausschweifenden, romantischen Charakteren in gotischen Geistergeschichten – wie zum Beispiel Frankensteins Monster früher im 19. Jahrhundert. “Oft kommt ein übernatürliches Element ins Spiel, mit dem niemand etwas anzufangen weiss”, sagte Lehmann. “Der Hintergrund des Alltäglichen macht die Geschichten nur noch beängstigender.”

Typisch für diese Literaturgattung sind laut Lehmann Imfeld zum Beispiel die Kurzgeschichten des viktorianischen Autors M.R. JamesExterner Link. Er hat sich auf den Typus des unbeholfenen, akademischen Hauptprotagonisten spezialisiert, dem immer wieder übernatürliche Objekte begegnen, die man nicht stören sollte – aber natürlich tut es der Protagonist auf eigene Gefahr trotzdem. “Es geht in den Geschichten darum, die Übernatürlichkeit wieder ernst zu nehmen”, sagte die Forscherin.

“Die Charaktere in den Geistergeschichten denken ähnlich, wie wir heute denken: Die Wissenschaft sei so weit, dass es nur sehr wenig gibt, was sie nicht erklären kann”, führte Lehmann Imfeld aus. “Die Protagonisten sind zuversichtlich, dass sich die Probleme auflösen werden. Aber dann werden sie mit etwas konfrontiert, was ihnen zeigt, dass das nicht stimmt.”

Vom viktorianischen England ins Universum 

Seit sie ihre Doktorarbeit 2015 mit Auszeichnung abgeschlossen hat, arbeitet Lehmann Imfeld als interdisziplinär forschende Postdoktorandin am Zentrum für Weltraumforschung (Centre for Space and HabitabilityExterner Link) der Universität Bern. Sie untersucht, wie die Menschen mit dem Unbekannten im Bereich der Wissenschaft umgehen, speziell in der Astrophysik.

“Ich interessiere mich besonders für die Frage, wie das Leben auf anderen Planeten definiert werden soll: Muss es eine Kreatur sein? Oder könnte Leben auch kohlenstoff- oder silikonbasiert sein?” Als Literaturwissenschaftlerin analysiert sie in diesem Zusammenhang auch, welche Antworten sich in Science-Fiction-Werken auf diese Fragen finden. In diesem Projekt sieht Lehmann Imfeld viele Parallelen zu ihrer vorhergehenden Arbeit zum Übernatürlichen in den Geistergeschichten, besonders in der Art und Weise wie die Menschen mit dem Unbekannten umgehen.

Theologie als Mehrwert

Lehmann Imfelds Doktorarbeit wird diesen Sommer im Buch “The Victorian Ghost Story and TheologyExterner Link” veröffentlicht. Trotz den Ergebnissen ihrer theoretischen Forschung ist sie der Ansicht, dass die Menschen Geistergeschichten so lesen sollen, wie sie wollen. Sie ist nicht der Meinung dass die gesamte Horrorliteratur theologisch gesehen werden muss.

“Wenn wir Literatur lesen, besonders ältere Werke, lassen wir meistens die theologischen Konzepte beiseite und überlassen sie den Theologen. Aber man verpasst so vieles, was in den Texten steht.” 

Übernatürliche Schweiz

Gemäss dem Bundesamt für Kultur (BAK)Externer Link spielen Geistergeschichten eine Schlüsselrolle in der Zentralschweizer Erzähltradition. Üblicherweise enthalten diese Geschichten ein übernatürliches Phänomen wie ein Geräusch, eine Bewegung oder eine visuelle Erscheinung ohne rationale Erklärung. Sie spielen typischerweise an einem realen Ort oder in einer alltäglichen Umgebung und als Verursacher der Phänomene werden “arme Seelen” von verstorebnen, nicht genauer spezifizierten Personen ausgemacht.

Die Tradition von Schweizer Geistergeschichten ist in ländlichen Regionen stärker ausgeprägt als in Städten. Ungewöhnlicherweise hat jedoch auch Zürich eine lange Liste von paranormalen Legenden, wie zum Beispiel auf dem Ghost Walk of ZurichExterner Link zu erfahren ist.

Bis vor kurzem stand das bekannteste Geisterhaus der Schweiz in Stans, Kanton Nidwalden. Gemäss dem Historischen Lexikon der Schweiz (HLS)Externer Link gehörte es Melchior Joller, einem am 1.1.1818 geborenen Schweizer Fürsprecher. 1862 erlebte Joller in seinem Wohnhaus “mystische Erscheinungen”, was ihn soweit brachte, Stans zu verlassen. Die Phänomene konnten nie erklärt werden, wie im Dokumentarfilm “Das SpukhausExterner Link” (2003) zu erfahren ist. 2010 wurde das Haus abgerissen.

Geistergeschichten und paranormale Erscheinungen scheinen die Menschen in der Schweiz auch über die Hollywoodfilme hinaus zu bewegen. Im März berichtete die französischsprachige Zeitung “Le MatinExterner Link“, dass die Nachfrage bei Immobilienmaklern nach “Geisterjägern”, die neuerworbene Wohnungen und Häuser vor Geistern “reinigen” zunehme.  

Der Marie Heim-Vögtlin-Preis

Der Marie Heim-Vögtlin-Preis (MHV)Externer Link ist mit 25’000 Fr. dotiert und wird jährlich an eine Teilnehmerin des MHV-Unterstützungsprogramms vergeben. Jedes Jahr vergibt der Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) rund 35 Stipendien an Doktorandinnen oder Postdoktorandinnen, die wegen familiären Verpflichtungen ihre Tätigkeit unterbrechen oder reduzieren müssen. Das Programm umfasst das Salär für bis zu zwei Jahre und kann zusätzlich einen Teil der Forschungs- und Kinderbetreuungskosten abdecken.

Sowohl das Unterstützungsprogramm als auch der Preis sind nach Marie Heim-Vögtlin (1845-1916) benannt. Sie war die erste Ärztin der Schweiz und Co-Gründerin des ersten Schweizer Frauenspitals in Zürich.

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(Übertragung aus dem Englischen: Reto Gysi von Wartburg)

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