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“Sie war eben Emilie Lieberherr”

Emilie Lieberherr war eine Vollblutpolitikerin. RDB/Christian Lanz

Die engagierte Frauenrechtlerin und Konsumentenschützerin, Zürcher Stadträtin und Ständerätin Emilie Lieberherr ist tot. Das politische Urgestein, Ex-SP-Präsident Helmut Hubacher, erinnert sich an die politische Legende.

Am 3. Januar ist Emilie Lieberherr im Alter von 86 Jahren an Nierenversagen gestorben. Die prägende Politikerin war Frauenrechtlerin der ersten Stunde, erste Stadträtin von Zürich und vertrat ihren Kanton im Ständerat. Zudem hat sie als Vorkämpferin des Schweizer Konsumentenschutzes eine Bekanntheit erreicht, die weit über die Kantonsgrenzen hinaus reichte.

swissinfo.ch: Welche Bedeutung hat Emilie Lieberherr in der Schweizer Politik?

Helmut Hubacher: Sie war eine Vorkämpferin für das Frauenstimmrecht, das hat sie national bekannt gemacht. Und sie war wohl die erste Konsumentenschützerin. Bekannt geworden war sie vor allem in der zürcherischen Politik. Ihr Job als Ständerätin für den Kanton Zürich war ihr nicht so wichtig wie ihr stadtzürcherisches Sozialamt.

swissinfo.ch: Hätten Sie sich Emilie Lieberherr als Bundesrätin vorstellen können?

H. H.: Ja, Format, Profil, Auftritt, das hätte alles gepasst. Wenn Emilie eine Chance als Bundesrätin erkannt hätte, hätte sie sich schon engagiert. Aber sie hat gesehen, dass die Zeit dafür noch nicht reif war als Frau im Bundesrat.

Sie war nicht talentiert als Nummer Zwei. Ich hatte immer den Eindruck, dass der Zürcher Stadtpräsident einfach akzeptieren musste, dass Emilie in der Öffentlichkeit das populärste Mitglied des Stadtrates war. Und weil sie beim Bund keine Aufstiegschancen gesehen hatte, ist eben Zürich der Hauptplatz, das Schwergewicht in ihrer Politik geblieben.

Sie hat mir mal gesagt, als ich sie fragte, was für einen politischen Herzenswunsch sie hätte: Eine Frauenmehrheit im Bundesrat. Und das hat sie noch erlebt.

Auch mit dem Kollegialitätsprinzip hätte sie keine Schwierigkeiten gehabt, das hatte sie auch in der Stadtregierung nicht. Streit hatte sie jedoch mit ihrer Partei.

swissinfo.ch: Sie hatte Differenzen mit der Partei?

H. H.: Anfang der 1980er-Jahre hatte die erste Frau in der Zürcher Stadtregierung mit der Partei wegen der Jugendunruhen in Zürich grosse Differenzen. Emilie hatte sich eine etwas härtere Hand gewünscht, als dies der Partei lieb war.

Ich bin damals oft nach Zürich gefahren, um zu vermitteln. Sie aber war der Ansicht, dass ich nichts dort verloren hätte. Sie könnten ihr Feuer selber löschen.

Als ich einmal über den Zürcher Helvetia-Platz ging, rief mir ein Strassenwischer laut zu: “Hubacher, habt ihr wieder Krach, musst Du schlichten?” Also es war öffentlich ein Thema.

Darauf gab es einen komplizierten Austritt. Es ist unklar, ob Lieberherr selbst ausgetreten ist oder ob sie zum Austritt gezwungen wurde.

Die letzten Jahre war sie ja nicht mehr als Vertreterin der Sozialdemokratie in der Zürcher Stadtregierung. Das Verhältnis hat sich zwar nachher wieder verbessert. Aber eben, sie war eben Emilie Lieberherr. Sie hat immer gesagt: “Ich sage, was ich denke, und wenn es auch ‘tätscht’.” 

Bei den Jugendunruhen in den 1980er-Jahren hatte man den Eindruck, sie hätte Mühe, den Draht zu den Jugendlichen zu finden. Was meinen Sie?

H. H.: Emilie Lieberherr führte das Sozialdepartement. Ihre grosse Stärke und Leistung war die Alterspolitik. Man hatte immer das Gefühl, die Jugend gehöre weniger dazu.  

Später dann, als Zürich wegen der Zustände auf dem Platzspitz und auf dem Letten wegen des massiven Drogenelends europaweit bekannt geworden war, hat sie erkannt, dass die Drogenpolitik ein neuer Schwerpunkt sein musste.

Dort hatte sie sich stark engagiert. Sie ist richtig in die Drogenpolitik eingestiegen. Zu ihrem Verdienst gehört das heute schweizweit geltende Vier-Säulen-Konzept (Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression, Red.). 

swissinfo.ch: War Frau Lieberherr ein nachtragender Mensch?

H. H.: Sie konnte durchaus Kritik einstecken. Aber als sie als Ständeratskandidatin nominiert wurde, votierte Ursula Koch, die spätere Stadträtin und SP-Präsidentin, gegen ihre Kandidatur. Begründung: Es mache keinen Sinn, dass die SP in Bern mitarbeite. Dort liesse sich nichts erreichen.

Das konnte sie Koch nicht verzeihen. Aber im grossen und ganzen war sie souverän genug, dass sie einen Strich unter eine Angelegenheit ziehen konnte.

swissinfo.ch: Könnte man die Vollblutpolitikerin als eitel bezeichnen?

H. H.: Schon. Sehr. Sie war immer der Mittelpunkt. Das ist wie bei jedem Politiker. Beim einen ist es weniger, beim anderen etwas stärker ausgeprägt, aber eitel sind wir alle. Ich habe immer gesagt: Das Mauerblümchen ist nicht die Lieblingsblume einer politischen Persönlichkeit.

Sie war auch ehrgeizig. Das gehört dazu. Sie hat das auch souverän dargestellt. Als Zürcher Politikerin ist sie eine nationale Figur gewesen. Und so wird sie uns auch in Erinnerung bleiben.

Emilie Lieberherr wurde am 14. Oktober 1924 in Erstfeld im Kanton Uri geboren.

Ihr Vater war SBB-Angestellter.

Handelsdiplom am katholischen Internat Theresianum Ingenbohl.

Arbeit bei der Schweizerischen Bankgesellschaft in Zürich.

1947: Handelsmatura und Personaltrainerin.

1952 bis 1956: Studium der Nationalökonomie.

Arbeitsaufenthalt in den Vereinigten Staaten, unter anderem als Kindermädchen für Jane und Peter Fonda.

1960 bis 1970: Berufsschullehrerin.

1961: Mitbegründerin des Konsumentinnenforums Schweiz, Präsidentin von 1965 bis 1978.

Ende 1960er-Jahre: Erste politische Auftritte im Kampf für das Frauenstimmrecht.

1969 führt sie das Aktionskomitee “Marsch nach Bern” an, das sich für das Frauenstimmrecht engagierte.

1970 bis zu ihrem Rücktritt 1994: Vorsteherin des stadtzürcherischen Sozialamts.

1976 bis 1980: erste Präsidenten der Eidgenössischen Kommission für Frauenfragen.

Lieberherrr ist Mitinitiantin des Programms zur Abgabe von Heroin an Schwerstsüchtige. Sie beteiligte sich am Aufbau des Vier-Säulen-Modells der schweizerischen Drogenpolitik.

Besonders engagierte sie sich auch für die ältere Bevölkerung. So entstanden unter ihrer Leitung 22 Altersheime.

1978 bis 1983: Ständerätin für den Kanton Zürich

1990: SP-“Parteiausschluss”, da sie statt den SP-Kandidaten für das Zürcher Stadtpräsidium einen Liberalen unterstützt hatte.

Die Abdankungsfeier für Emilie Lieberherr wird am 12. Januar ab 14.15 im Zürcher Grossmünster stattfinden.

Es werden viele Wegbegleiter erwartet, Frauenrechtlerinnen, Konsumentenschützerinnen und Politiker und Politikerinnen aus der ganzen Schweiz.

Nun wird in Zürich geprüft, eine Strasse oder einen Platz nach Emilie Lieberherr zu benennen.

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