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Studie beleuchtet Schweizer Dschihad-Kämpfer

Wer sind die Dschihadisten aus der Schweiz? Erstmals nimmt eine Masterarbeit den Parcours von zehn Personen unter die Lupe – mit Hilfe von Daten der Bundesbehörden. Sie wurde nun in Genf vorgestellt.

La police dans une mosquée en Suisse.
Im Kampf gegen Extremismus hat die Polizei anfangs November 2016 unter anderem die Moschee von Winterthur durchsucht. Keystone

Polizeiberichte und Besprechungsprotokolle: Tausende Seiten über Schweizer Dschihad-Kämpfer, die der Schweizer Bundesanwaltschaft vorliegen, konnte Florent Bielmann, Student der Universität Bern, für seine Masterarbeit einsehen.

Bielmann arbeitet auch als Analyst im Auftrag des Bundesamts für Polizei (Fedpol). Er richtete seinen Fokus auf zehn Personen, die Gegenstand von Verfahren waren oder immer noch sind. Dabei handelt es sich in erster Linie um Dschihad-Reisende, die wieder in die Schweiz zurückgekehrt waren. Es sind Deutschschweizer und Romands (je fünf), im Durchschnitt 24 Jahre alt, bei einer der Personen handelt es sich um eine Frau. Ausgewählt hat Bielmann sie aufgrund des vorhandenen Materials.

Die Arbeit sei eine “einzigartige Kartografie”, sagt der Politologe Frédéric Esposito, der den Masterstudenten beim Schreiben seiner Arbeit begleitete. Eine Kartografie, welche die Schweizer Besonderheit hervorhebe, so der Direktor des Universitätsobservatorium zur Sicherheit.

Esposito betont dabei ein Schlüsselelement, das besonders bezeichnend ist für diese Studie: Die zehn Beschuldigten hatten sich alle unter dem Einfluss eines lokalen Mentors aus deren realem Umfeld befunden. “Die sozialen Medien spielen in einem Radikalisierungsprozess oft nur eine beschleunigende Rolle”, sagt er. Vielmehr sei es die Gruppe oder der enge Kreis einer Person, die eine essentielle Rolle bei der Rekrutierung spielten.

“Lust auf einen Neuanfang”

Biographische Daten, sozio-ökonomische oder psychologische Aspekte und Weltanschauungen: Die Masterarbeit berücksichtigt mehrere Faktoren. In allen untersuchten Fällen stellte Bielmann “eine limitierte soziale Mobilität” fest. Dabei handelte es sich entweder um Schulversagen oder um Schwierigkeiten, einen Arbeitsplatz zu halten. Nur eine der untersuchten Personen ist im Besitz eines Diploms, eines Lehrabschlusses.

Die meisten der untersuchten Personen betonten zudem, dass der Dschihad ihnen eine Gelegenheit bietet, ihr Leben zu verändern. “Ich habe in diesem Moment gemerkt, dass es sich hierbei um einen neuen Anfang in meinem Leben handelt”, erklärt eine von ihnen.

Mehrere haben ausserdem ein binäres Weltbild: der Kampf des Guten gegen das Böse, die unterdrückten arabischen Länder gegen die internationale Koalition.

Im Unterschied zu den Kämpfern aus Frankreich oder Grossbritannien verspürten jene aus der Schweiz keinen Hass gegen das eigene Land, sondern gegen den Westen allgemein, sagt Esposito. Eine weitere Besonderheit des Schweizer Falls im Vergleich zu Frankreich, Grossbritannien oder Belgien ist zudem die Tatsache, dass die Schweiz nie eine Kolonialmacht war. “Auch ist die muslimische Gemeinde in der Schweiz viel weniger homogen”, so Esposito.

Komplexes Phänomen

Die Studie zeigt Werdegänge von Schweizer Dschihad-Reisenden auf, auch wenn es ihr nicht gelingt, alle zehn Parcours präzise zurückzuverfolgen. Die Daten wurden anonymisiert, dies war eine unerlässliche Bedingung, damit die Behörden in die Publikation der Masterarbeit einwilligten.

Ziel der Arbeit war es, die Komplexität des Phänomens der Radikalisierung in der Schweiz aufzuzeigen. Und wer weiss, es den Behörden im Gegenzug zu ermöglichen, Lehren daraus zu ziehen?

(Übertragung aus dem Französischen: Kathrin Ammann)

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