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Schicke Räder sind wieder aus Stahl

In den neuen, eleganten Stahlrahmen-Flitzer lebt alte Velo-Traditionen wieder auf. swissinfo.ch

Puristische 1-Gangvelos, elegante Retro-Räder: Im heutigen Stadtbild sind sie die Ikonen der Verschmelzung von Ästhetik und Spass an der Bewegung auf zwei Rädern. Vor 25 Jahren noch hatte das Velo in der Krise gesteckt. Auf den Spuren einer Renaissance.

Ein Rahmen aus dünnem Stahlrohr, zwei Räder, zwei Pedalkurbeln, Kette, Sattel, Stummellenker: Starrlaufvelos ohne Gangschaltung – Fixed Gear Bikes oder Fixies genannt – stehen für die Reduktion des Velos auf das technische und ästhetische Minimum.

“An einem Fixie gibt es nicht mehr viel, was man weglassen kann”, sagt Marius Graber, Technikredaktor beim Fachmagazin Velojournal, gegenüber swissinfo.ch. Zwar könne daran fast nichts mehr kaputt gehen, dafür benötige man zum Fahren entsprechende Oberschenkel.

“Für mich sind Fixies die High-Heels für Männer. High-Heels sind als Schuhe unbequem, dennoch gibt es sehr viele Frauen, die High-Heels kaufen und sehr gerne tragen”, so Graber.

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Archaisches Fahrerlebnis 

Die Wiederentdeckung der Velo-Mobilität, die während der Zweirad-Blütezeit in den 1920er- und 1930er-Jahren gelebt worden sei, ermögliche ein archaisches Fahrgefühl, gewissermassen als Antithese zum dichten und nervösen Stadtverkehr von heute.

“Es ist ein wahnsinniger Gewinn, wenn sich die Leute heute gern mit ihrem schicken Velo zeigen. Es kann nichts Besseres passieren, als wenn das Velo Mode wird”, freut sich Graber.

Die Sache hat aber auch einen Wermutstropfen: Es sind die Billigangebote ab weniger als 300 Franken, bei denen die modische Erscheinung auf Kosten von Qualität oder gar Sicherheit gehen kann. “Darin besteht die Gefahr des Ganzen”, relativiert der Technikspezialist.

“Wichtig sind die ästhetische Komponente und der Spassfaktor”, bestätigt Reto Lüscher, seit eineinhalb Jahren Betreiber des Szene-Ladens “Fixieshop” in Basel. Sein Angebot reicht vom “lustigen und farbigen Velo” für knapp 800 Franken bis zum hochwertigen und leichten Edelgefährt für bis zu 7000 Franken.

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An der Rennstrecke der Velokuriere

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Phase der Konzentration ist vorbei, die Wettkämpfer behändigen ihre Räder und reihen sich für das Rennen ein. Die Stimmung im Berner Lorraine-Quartier ist festlich, als das Startsignal zum Final der Europäischen Velokurier-Meisterschaft erschallt. “Nur der Beste wird es schaffen!”, ruft der Veranstalter durchs Megaphon, während die Fahrer die Riemen ihrer Tragtaschen festziehen und einen…

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Mode bringt Vielfalt 

In den 1-Gängern sieht Graber “die extremste Ausprägung des allgemeinen Trends” zu urban-eleganten Velos. Sie dürften deshalb eine Randerscheinung bleiben. Er attestiert ihnen aber eine stilprägende Funktion. “Immer mehr Velos gleichen äusserlich Fixies, verfügen aber über eine Nabenschaltung mit zwei bis acht Gängen.”

Der Spezialist in Sachen Velotechnik ist überzeugt, dass die gegenwärtige Velo-Mode nicht einfach so verpuffen wird, sondern dass sie nachhaltig in die Breite wirkt. Die Vielfalt der Fahrräder nehme zu, sagt Graber mit Verweis auf die E-Bikes oder die Cargo-Bikes, Lastesel mit zwei oder drei Rädern zum Transport von Kindern, Hunden oder Waren. In ihnen sieht er den “Ausdruck einer neuen Mobilitätskultur”.

Ursprünglich von der Subkultur der Velokurier-Szene aus der historischen Versenkung geholt, wurde der Trend der 1-Gangvelos von den Spürnasen der Kreativ-Szene aufgenommen. Designer wie Armani, Vivienne Westwood oder Sonja Rykiel brachten die Zweiräder auf den Laufsteg.

Von dort herab kamen sie erst in die Hochglanz-Magazine für Schöngeister mit praller Geldbörse und dann auf die urbanen Meilen – fertig war die Metamorphose vom Velo-Archetypen zum Ausdruck von lässig-gepflegtem Understatement.

Im 20. Jahrhundert existierten in der Schweiz 200 bis 300 Velo-Marken, schätzt Edy Arnold, Gründer und Leiter des nationalen Velo-Museums Helvetia in Brügg bei Biel.

Biel war laut Arnold mit 16 Herstellern Velo-Hochburg der Schweiz.

Die Velos der Marken wie Tebag, Staco, Cilo, Villiger, Tigra, Allegro, Alpa, Eiger, Condor, Tour de Suisse, Automat, Helvetia, Schwalbe, Cosmos, Stella, Wolf, Vifian Estelli etc. waren für die hohe Qualität ihrer handgefertigten Stahlrahmen bekannt.

Heute ist Aarios aus dem Kanton Solothurn der letzte verbliebene Hersteller, der die Stahlrahmen für seine Velos noch in der Schweiz fertigt.

Die anderen Marken sind verschwunden, wurden aufgekauft und/oder lassen heute in Asien produzieren.

Dadurch ist in der Schweiz viel Know-how im Bau von Stahlrahmen verloren gegangen.

Private Enthusiasten sorgen für ein Wiederaufleben der alten Tradition.

Zu sehen sind ihre von Hand gelöteten, oftmals kunstvollen Velos am “Bike Lovers Contest” in Zürich. Dieser Wettbewerb findet jeweils im März im Rahmen des “Teilchen-Beschleunigers” statt, der grössten Börse für Secondhand-Velos und Teile der Schweiz.

Persönlichkeit unterstreichen

Dass Modeköniginnen und Design-Koryphäen aufs Velo kamen, ist für den Journalisten und Stil-Experten Jeroen van Rooijen kein Zufall. “Velos gibt es in 100’000 Varianten, daher sind sie bestens geeignet, die eigene Persönlichkeit auszudrücken.” Auch deswegen erlebe das Velo heute eine Renaissance.

“Das Velo ist zum wichtigen Accessoire für Junge und Junggebliebene geworden” sagt van Rooijen. Daraus sei auch eine neue Wertschöpfungskette entstanden. Allein in Zürich zählte er sechs oder sieben “Velo-Boutiquen, die im Stil von teuren Schuhläden an der Bahnhofstrasse gehalten sind, in denen aber hochwertige Velos verkauft werden”.

Als Veranstalter des “Saturday Style Ride” ist es Van Rooijens Anliegen, “eine Velokultur auf ästhetischem Niveau” zu etablieren. Die 130 Teilnehmenden, die jüngst in Zürich mitradelten, zeigen ihm, dass diese Kultur lebe und Spass mache.

Viele von ihnen sassen auf so genannten Retro-Bikes, modernen Velos, die optisch an den Stil früherer Epochen angelehnt sind. In Basel verkauft das Geschäft “Single Speed Bicycles” solche Nischen-Räder.

“Zurück zum klassischen Stahlrahmen, der von den Mountainbikes verdrängt worden war”, beschreibt Mitinhaber Michel Seeliger die Philosophie. Seine Kunden sind Geschäftsleute, Bankangestellte, Architekten oder Juristen ab 30, “für die Velofahren zum Lifestyle geworden ist. Sie fahren täglich mit dem Velo zur Arbeit, wollen dies aber klassisch-gepflegt tun, sowohl was das Velo, als auch die Kleidung betrifft”.

Teil der Wertschöpfungskette, wenn auch indirekt, sind die Modegeschäfte. In Bern setzten mindestens fünf von ihnen, vom Laden für unkomplizierte Streetwear bis zum Traditionshaus für hochpreisige Herrenkonfektion, den Kunden und Kundinnen modische Velos als Blickfang vor, wie ein Rundgang ergab.

“Die eleganten Velos verkörpern ein urban-unkompliziertes Lebensgefühl, wie es auch in unserer Mode zum Ausdruck kommt, die weniger formell geworden ist. Heute kann ein Geschäftsmann auf seinem coolen Velo durchaus im Businessanzug, aber ohne Krawatte, ins Büro radeln”, sagt etwa Jürg Welti von “Herren Globus”.

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Es begann mit den Mountainbikes 

Ein Velo im Kleidergeschäft wäre vor 20 Jahren undenkbar gewesen, sagt Marius Graber. Seither habe es einen massiven Prestigegewinn verzeichnet, dessen Ursprung er bei der “innovativen und wilden Mountainbike-Szene” ansiedelt. Diese verlieh in den 1990er-Jahren aus den USA kommend der kriselnden Schweizer Velobranche neue Impulse. “Dank der technischen Weiterentwicklungen wurde das Mountainbike für die breite Masse zu einem Hightech-Fahrzeug, das auch etwas kosten durfte.”

Jetzt also schlägt das Pendel zurück. Mehr und mehr Velofahrer sind der Technik mit immer mehr komplexer Elektronik überdrüssig und feiern das Velo als eine Ikone der Ästhetik der Reduktion.

Und die Pedalen drehen weiter. Als neuer Trend kristallisiert sich für Stil-Experte Jeroen van Rooijen das “Freak oder Zombie Bike” heraus. Liebhaber bauen ihr “verrücktes” Velo auf, indem sie etwa den Stahlrahmen eines alten Rennvelo-Klassikers mit aufgefrischten Originalteilen und Hightech-Zubehör wie dem Carbon-Vorderrad eines Bahnvelos kombinieren.

Reto Lüscher vom Basler “Fixieshop” macht in der stilbildenden Velokurier-Szene einen anderen neuen Trend aus: Rennvelos, wie sie im Cyclocross, früher Radquer genannt, über Stock und Stein geritten werden und die dank Stollenpneus “ein sehr breites Einsatzgebiet” aufweisen. Obwohl das Konzept der robusten Räder alles andere als neu ist, könnten sie die lukrative Lücke zwischen Rennvelo und Mountainbike füllen.

Lange wurden Stahlrahmen bei Schäden wie Dellen, Rissen etc. repariert. Heute ist dies kaum mehr nötig, weil Schäden am Rahmen selten geworden sind.

Zudem ist die Herstellung heutiger Stahlrahmen relativ günstig.

Die klassisch-elegante, filigrane Silhouette von Velos mit Stahlrahmen wird durch den geringen Rohrdurchmesser möglich.

Wird der Rahmen mit Farbe pulverbeschichtet, ist er weitgehend vor Rost geschützt.

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