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“Alle Ampeln stehen auf grün”

Botschafter de Cerjat mit General Giap, der in Vetnam als einer der "Helden der Unabhängigkeit" gilt. B. de Cerjat

Am 11.Oktober 1971 hat die Schweiz als eines der ersten westlichen Länder diplomatische Beziehungen zu Nordvietnam aufgenommen. Das Land befand sich damals noch im Krieg mit den USA.

Seit 35 Jahren unterhalten die beiden Länder bilaterale Beziehungen. Aus diesem Anlass unterhielt sich swissinfo mit dem Schweizer Botschafter in Hanoi, Bénédict de Cerjat.

swissinfo: Zum Zeitpunkt der Anerkennung von Nordvietnam, das für die Vereinigung der Landesteile kämpfte, unterhielt die Schweiz auch diplomatische Beziehungen zu Südvietnam. Können Sie uns den historischen Kontext dieser Epoche erläutern?

Bénédict de Cerjat: In den 50-er und 60-er Jahren befand sich die Schweiz in mehrfacher Hinsicht in einer schwierigen Position. Sie wollte eine ausgewogene Position zu geteilten Ländern einnehmen. Neben Vietnam betraf dies Korea und Deutschland.

Zu Beginn der 1970-er Jahre beschloss man, nach vorne zu schauen und mit Nordvietnam diplomatische Beziehungen aufzunehmen. Das Land befand sich damals unter dem Einfluss der Kommunistischen Partei. Gemeinsam mit Schweden, Grossbritannien und Frankreich gehörten wir zu den ersten Ländern, die diesen Schritt wagten.

swissinfo: Viele offizielle Dokumente sprechen von privilegierten Beziehungen zwischen den beiden Ländern. Was bedeutet das genau?

B.d.C.: Anfänglich konzentrierten sich unsere Beziehungen fast ausschliesslich auf die humanitäre Hilfe. Zu Beginn der 90-er Jahre hat die Schweiz ein Kooperationsprogramm auf die Beine gestellt, das den Umwandlungsprozess in Vietnam begleitete.

Auf politischer Ebene gab es sehr intensive Beziehungen. Die Kontakte reichten bis auf die höchste Ebene. 1997 konnten wir so das Thema Menschenrechte in die bilateralen Gespräch einbringen.

swissinfo: Wie beurteilen Sie denn die heutige Situation in Vietnam in Bezug auf die Menschenrechte? International wird immer wieder Kritik laut.

B.d.C.: Vietnam hat sich wirtschaftlich reformiert und geöffnet. Die politischen Reformen sind aber immer noch bescheiden. Die Diskussion über gewisse Themen ist mittlerweile aber möglich. Das Recht auf freie Religionsausübung ist beispielsweise eingeführt worden. Andere Themen wie Meinungs- und Pressefreiheit sowie politischer Pluralismus sind noch tabu.

Ein weiteres Problem: Im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl vollstreckt Vietnam weltweit die meisten Todesstrafen. Auch die Abhängigkeit der Justiz von der Exekutive und den Parteiorganen stellt ein gravierendes Problem dar.

swissinfo: Was hat die Schweiz in ihrem Engagement für die Menschenrechte konkret erreicht?

B.d.C.: Der aufgenommene Dialog erlaubt uns, in hoch sensiblen Bereichen tätig zu sein. So haben wir Zugang zu den Gefängnissen, zu Behördenvertretern oder zum höchsten Gericht. Wir entwickeln und verwirklichen auch ganz gezielte Projekte.

Seit sechs oder sieben Jahren arbeiten wir beispielsweise mit der Nationalen Politischen Akademie Ho Chi Minh zusammen. Dort werden Kaderleute der Partei ausgebildet. Für sie haben wir die Dokumente der Vereinten Nationen zu Menschenrechten und die Genfer Konvention ins Vietnamesische übersetzt.

swissinfo: Kommen wir auf den Wirtschaftsboom zu sprechen. Als Folge dieser Entwicklung geht die Schere zwischen Reich und Arm noch weiter auf. Anfang Jahr gab es grosse soziale Spannungen in Vietnam. Ist die Stabilität des Landes gefährdet?

B.d.C.: Nein, keineswegs. Weil es zu den Mindestlöhnen keine Klarheit gab, kam es zu Unruhen. Das Problem wurde gelöst. Die Annahme ist falsch, dass es hier eine organisierte Widerstandsbewegung gibt.

Vietnam hat ganz unten angefangen. Und mittlerweile merken alle Menschen – manche mehr, manche weniger – dass es jedes Jahr aufwärts geht. Die Regierung hat daher keine Mühe, Stabilität zu garantieren. Die Ampeln stehen auf Grün.

swissinfo: Der Beitritt zur Welthandels-Organisation (WTO) steht bevor. Was darf man davon erwarten?

B.d.C.: Dies ist ein wichtiger Schritt für Vietnam. Das Land wird grossen Nutzen daraus ziehen. Einige Wirtschaftszweige werden allerdings auch zu leiden haben, darunter die staatlichen und hoch subventionierten Industriebetriebe.

Heute gibt es noch sehr viele Staatsbetriebe. Diese müssen alle privatisiert, oder besser gesagt “angeglichen” werden. Das Wort “Privatisierung” hört man in Vietnam nicht so gern.

swissinfo, Interview Marzio Pescia, Hanoi
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Vietnam ist 331’000 km2 gross und zählt 85 Millionen Einwohner (Durchschnittsalter: 27 Jahre)

In den letzten Jahren hat das Land ein Wirtschaftswachstum von mehr als 7% verzeichnet. Nach China gehört Vietnam zu den dynamischsten Wirtschaftsräumen auf der Welt.

Seit 1995 laufen Verhandlungen zum Beitritt zur Welthandels-Organisation (WTO).

Die Schweiz hat Ende 2005 eine Quote von 720 Millionen Dollar an Direktinvestitionen in Vietnam erreicht. Damit gehört sie in Bezug auf das Investitionsvolumen zu den Top-15-Staaten. Unter den europäischen Ländern ist die Schweiz (nach Frankreich, den Niederlanden und Grossbritannien) der viertgrösste Investorenstaat in Vietnam.

Zirka 90 Schweizer Unternehmen sind in diesem asiatischen Land tätig, darunter auch multinationale Konzerne wie Holcim (Beton), Nestlé (Nahrungsmittel), ABB (Energiegewinnung) oder Syngenta (Agrochemie). Sie beschäftigen zirka 2500 Personen.

Im Jahr 2005 hat der bilaterale Handelsaustausch 240 Millionen Dollar überschritten. Die Schweiz exportiert hauptsächlich Maschinen, chemische und pharmazeutische Produkte. Umgekehrt werden aus Vietnam Schuhe, Textilien, Fisch und Landwirtschaftsprodukte in die Schweiz eingeführt.

Jedes Jahr verbringen 15’000 Schweizer ihre Ferien in Vietnam. In der Statistik der Herkunftsländer steht die Schweiz in Vietnam an sechster Stelle.

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