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“An jedem fünften Gericht in der Schweiz gibt es keine hauptamtliche Richterin”

Nina Ochsenbein
Die Anwältin Nina Ochsenbein hat den Richterinnenanteil an Schweizer Gerichten erhoben. zvg

Eine Initiative verlangt, dass Richter:innen per Los bestimmt werden. Das Losverfahren würde die Chancen für Frauen auf ein Amt verbessern, argumentieren die Initiant:innen. Eine Anwältin widerspricht.

Als Orchester begannen, Bewerber:innen hinter einem Vorhang vorspielen zu lassen, stieg der Frauenanteil. Einen ähnlichen Effekt erhoffen sich die Initiant:innen der Justiz-Initiative vom Losverfahren bei der Auswahl von Richter:innen.

Gegner:innen widersprechen: Weil ein Expert:innengremium die Vorauswahl treffen würde, bestehe erst Recht die Gefahr, dass die Richterschaft nur noch aus konservativen, weissen Männern bestehen würde.

Wer hat Recht? Wir haben die Anwältin Nina Ochsenbein gefragt, die in ihrer Dissertation den Richterinnenanteil an Schweizer Gerichten erhoben und die Wahlsysteme analysiert hat.

Die Anwältin Nina Ochsenbein leitete während vier Jahren die Frauenberatungsstelle INFRA Bern und war die letzten sechs Jahre als Assistentin und Doktorandin am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern tätig. Sie hat soeben ihre Dissertation “Richterinnen an Schweizer Gerichten” publiziert.

swissinfo.ch: Frau Ochsenbein, seit wann können Frauen in der Schweiz Richterinnen werden?

Nina Ochsenbein: Frauen können seit 1971 auf Bundesebene Richterin werden, weil sie in diesem Jahr das Stimm- und Wahlrecht erhielten. In der Schweiz ist die einzige Wählbarkeitsvoraussetzung für Richter:innen das Stimmrecht – Ausländer:innen bleiben deshalb bis heute ausgeschlossen. Einige Kantone haben das Frauenstimmrecht schon vor dem Bund eingeführt, deshalb konnten dort Frauen auch schon früher Richterin werden.

Sie haben erhoben, wie viele Richterinnen es heute an Schweizer Gerichten gibt. Was war das Ergebnis?

Schweizweit beträgt der nominelle Frauenanteil bei hauptamtlichen Richter:innen gut 42%. Wenn man Teilzeitarbeit berücksichtigt und auf Vollzeit hochrechnet, dann beträgt der Anteil 39%.

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Das überrascht mich. Ein Frauenanteil von rund 40% ist doch gar nicht so schlecht?

Ich war auch überrascht, da in der Schweiz das Frauenstimmrecht ja sehr spät eingeführt wurde und wir vor 50 Jahren mit 0 Frauen angefangen haben.

Dennoch sind wir vom Idealzustand noch weit entfernt. An jedem fünften Gericht in der Schweiz gibt es keine einzige hauptamtliche Richterin, das finde ich schockierend. An jedem dritten Gericht in der Schweiz gibt es keine Möglichkeit zur Teilzeitarbeit. An diesen Gerichten ist der Anteil der Richterinnen deutlich niedriger. Und je höher das Gericht, desto weniger Frauen sind Richterin.

Am 28. November entscheidet die Schweizer Stimmbevölkerung über die Justiz-Initiative. Diese verlangt, dass Richter:innen des Bundesgerichts zukünftig nicht mehr vom Parlament gewählt, sondern durch das Los bestimmt werden. Wer zum Losverfahren zugelassen wird, würde eine Fachkommission entscheiden. Die Richter:innen dürften bis fünf Jahre nach Erreichen des ordentlichen Pensionsalters im Amt bleiben und könnten einzig in einem Amtsenthebungsverfahren entlassen werden. Damit soll die Unabhängigkeit der Richter:innen von der Politik gewährleistet werden. Gegenwärtig vergibt das Schweizer Parlament die Stellen von Bundesrichter:innen nach Parteienstärke. Bewerber:innen müssen also Parteimitglied sein und nach einer allfälligen Wahl der Partei Geld abliefern (Mandatssteuer). Diese Verflechtung von Politik und Justiz wird national und international kritisiert.

Sie schreiben in Ihrer Dissertation, in anderen Ländern sei das Richter:innenamt zu einem Frauenberuf und damit abgewertet worden. Woran machen Sie diese Abwertung fest?

Hauptsächlich an tieferen Löhnen im Vergleich zur Privatwirtschaft oder dem anwaltlichen Beruf. Vor allem in Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist der Frauenanteil bei Richter:innen hoch, sie verdienen aber sehr schlecht, daher ist es ein unbeliebter Job.

Der Frauenanteil unterscheidet sich je nach Kanton und Gericht erheblich. Was lesen Sie daraus ab?

Frauen sind häufig in sozial geprägten Arbeitsfeldern tätig, so ist ihr Anteil höher an Zivilgerichten und Sozialversicherungsgerichten. Dann gibt es gleichstellungsfreundliche und gleichstellungsfeindliche Regionen. Die französischsprachige Schweiz beispielsweise hat höhere Frauenanteile.

Wie wird man, kurz und knapp erklärt, in der Schweiz Richter:in?

Die Wahlen erfolgen in der Regel durch Stimmvolk oder Parlament. Auf Bundesebene ist die Bundesversammlung das Wahlorgan. In den Kantonen kennen wir teilweise noch Volkswahlen für erste Instanzen und für die höheren Gerichte meist Parlamentswahlen. In manchen Kantonen wählt auch die Exekutive oder ein anderes Gericht die Richter:innen.

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Auf Bundesebene bereitet die Gerichtskommission die Wahl vor, dort gehen die Bewerbungen ein. Diese prüft dann mit den Fraktionen, welche Partei nach dem freiwilligen Parteienproporz Anspruch auf den freiwerdenden Sitz hat. Die Gerichtskommission macht dem Parlament anschliessend Wahlvorschläge. Viele Kantone haben ein ähnliches Gremium wie die eidgenössische Gerichtskommission.

Wenn Sie aus Ihrer Untersuchung ein Fazit ziehen: Welches Wahlsystem ist für Frauen am besten?

Kantone mit Volkswahl haben häufig einen tieferen Richterinnenanteil als Kantone mit Parlamentswahlen. Und dort, wo es eine vorbereitende Gerichtskommission gibt, ist der Frauenanteil höher. Für Frauen günstiger ist also eine Parlamentswahl mit vorbereitendem Gremium.

Warum haben Frauen bei Volkswahlen schlechtere Chancen?

Das weiss ich nicht, die Gründe habe ich nicht untersucht. Es gibt die These, dass Frauen die Öffentlichkeit scheuen und sich nicht gerne auf Werbeplakaten exponieren.

Es könnte aber auch an der Voreingenommenheit der Wähler:innen liegen, die lieber den männlichen, grauhaarigen, alten Richter wollen. Oder vielleicht gibt es auch ganz andere Gründe, eine Studie hierzu wäre interessant.

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Kai Reusser / swissinfo.ch

Die Justiz-Initiative fordert, dass Richter:innen am Bundesgericht zukünftig nicht mehr vom Parlament gewählt, sondern von einer Fachkommission nominiert und dann per Los bestimmt werden. Würden dank dem blinden Los mehr Frauen Richterinnen?

Davon gehe ich nicht aus. Die Initiant:innen haben es verpasst, die Bedingung einer angemessenen Geschlechtervertretung aufzustellen, bei den Sprachen haben sie das durchaus gemacht.

Das Losverfahren ändert nichts an den Mechanismen, dass beispielsweise weniger Frauen sich bewerben. Man müsste die Arbeitsbedingungen so ausgestalten, dass der Richterinnenberuf für Frauen attraktiver wird – beispielsweise durch Teilzeitarbeit. Man müsste dafür sorgen, dass mehr Frauen überhaupt in den Lostopf kommen.

Wenn der Frauenanteil höher ist, wo eine vorbereitende Gerichtskommission existiert, müsste das doch auch für die von den Initiant:innen vorgeschlagene Fachkommission gelten?

Die Gerichtskommission beachtet gemäss ihrer Website die ausgewogene Vertretung beider Geschlechter. Ob das für diese Fachkommission auch gelten würde, ist unklar. Man weiss noch nicht, wie sie zusammengesetzt wäre und nach welchen Kriterien sie die Vorauswahl treffen würde.

Wenn ich es richtig verstehe, müsste man sich weiterhin als Richter:in bei dieser Kommission bewerben. Und hier liegt das Problem: Wenn weniger Frauen sich bewerben, dann kann auch das Los nichts am Verhältnis ändern.

Manche Kritiker:innen behaupten sogar, die Vorauswahl durch ein Expert:innengremium würde den Frauenanteil senken, weil die Expert:innen einen Bias hätten.

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Ich sehe nicht, warum die Fachkommission voreingenommener sein sollte als die heutige Gerichtskommission. Dieses Argument überzeugt mich nicht. Ich kenne die Hintergründe dieser Kritik allerdings nicht.

Die Justizinitiative zielt nicht primär auf die Geschlechteregalität der Richter:innen, sondern auf deren Unabhängigkeit. Teilen Sie das Anliegen?

Das grundsätzliche Anliegen, dass Richterinnen und Richter unabhängig sein sollten, teile ich natürlich. Problematisch sind diesbezüglich vor allem die Wiederwahlen. Die Schweiz ist das einzige Land in Europa, das keine unbeschränkten Amtszeiten für Richter:innen kennt. Die Wahl per Los ist meiner Meinung nach aber keine Lösung.

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Wie unabhängig sind Schweizer Gerichte, wenn Richter:innen Parteimitglied sein müssen?

Wir alle sind geprägt von Erfahrungen und Einstellungen, ob wir in einer Partei sind oder nicht. Wer in einer Partei ist, macht zumindest die eigene Grundhaltung transparent.

Natürlich finde ich es problematisch, wenn Parteien mit der Wiederwahl Druck auf Richter:innen ausüben können. Dies ist in der Vergangenheit mehrfach passiert. Das Wiederwahlsystem ist für mich allerdings problematischer für die richterliche Unabhängigkeit als die Parteibindung.

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