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“Bern muss auf Missstände im Irak reagieren”

Laut Jean Ziegler wird Nahrung im Irak als Waffe eingesetzt. Keystone

Der UNO-Berichterstatter für das Recht auf Nahrung hat die Schweiz aufgefordert, gegen "ungeheuerliche" Menschenrechts-Verstösse im Irak zu intervenieren.

Jean Ziegler sagt, der Einsatz von Hunger und Wassermangel als Waffe im Irak sei ein klarer Bruch mit den Genfer Konventionen.

“Ich habe die Schweiz, als Depositärstaat der Genfer Konventionen, formell ersucht, gegen die Verletzung des ersten und zweiten Zusatzprotokolls der Konventionen zu intervenieren und diese Praxis im Irak offiziell zu verurteilen”, sagt Jean Ziegler gegenüber swissinfo.

Bisher habe er noch keine Antwort erhalten, er rechne aber damit, dass Aussenministerin Calmy-Rey auf seinen Appell reagieren werde. “Sie hat sich bisher immer entschlossen für eine weltweite Einhaltung der Genfer Konventionen eingesetzt.”

Nahrung als Mittel zur Kriegsführung

Im Irak setzten Koalitionstruppen wie Aufständische seit zwei Jahren Nahrung als “Kriegswaffe” ein, erklärte Ziegler am Freitag vor den Medien. “Die Aufständischen benutzen die Zivilbevölkerung regelmässig als menschliche Schilde.” Auch die Koalitionstruppen unterbrächen oft Lebensmittel- und Wasserversorgungen, um die Zivilbevölkerung zur Flucht aus Kampfgebieten zu zwingen.

Ziegler gestand den Koalitionstruppen zwar zu, dass sie im Kampf gegen die Aufständischen Zivilpersonen schützen und sie deshalb aus den Rebellenhochburgen entfernen wollten. Die Vorenthaltung lebenswichtiger Versorgungsgüter verstosse aber klar gegen das humanitäre Völkerrecht und die Menschenrechte.

Viele Menschen, denen die Flucht aus Kampfgebieten nicht gelungen sei, litten an Hunger. Einige seien sogar schon verhungert, betonte Ziegler. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Wasser sei nicht einmal in den Flüchtlings-Camps gewährleistet.

Die US-Armee hat die Vorwürfe am Freitagabend als “völlig falsch” entschieden zurückgewiesen.

Jean Ziegler will der UNO-Vollversammlung am 27. Oktober einen detaillierten Bericht vorlegen und nach eigenen Worten auch eine Resolution anregen, in der die Missstände im Irak verurteilt werden.

Welthunger

Jean Ziegler äusserte sich am Freitag aus Anlass des Welternährungstages vom kommenden Sonntag. Neben den Missständen im Irak prangerte er auch das mangelnde Engagement der Nationen im Kampf gegen den weltweiten Hunger an.

Die Zahl der hungernden Menschen sei 2004 auf 852 Mio. gestiegen. Das seien 10 Mio. mehr als 2003. Jeden Tag würden aber 100’000 Menschen an den Folgen von Unterernährung sterben.

“Das Recht auf Nahrung ist ein Menschenrecht”, betonte Ziegler. Es sei schockierend, dass immer mehr Menschen Hunger leiden, trotz des Versprechens der Vereinten Nationen, den weltweiten Hunger bis 2015 zu halbieren.

Vor allem in den Ländern Afrikas südlich der Sahara habe der chronische Lebensmittelmangel seit 1970 zugenommen, so Ziegler. Von 1999 bis 2001 stieg die Zahl der unterernährten Menschen in diesen Staaten von 88 auf 200 Mio. an. Das sind 35% der dortigen Bevölkerung.

Rüstung statt Nahrung

Während die 191 UNO-Mitgliedstaaten 2004 rund 1000 Mrd. Dollar für Rüstung ausgaben, hätten sie ihre Beiträge an die Hilfsorganisationen der UNO gekürzt, sagte Ziegler weiter.

Dabei könnten heute nach Angaben der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) weltweit 12 Mrd. Menschen ausreichend ernährt werden.

Das Welternährungsprogramm (WFP) habe dieses Jahr aber 219 Mio. Dollar zu wenig, und dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) fehlten 182 Mio. Dollar.

Das WFP sei in den vergangenen Monaten gezwungen gewesen, Lebensmittelrationen für Hunderttausende Flüchtlinge zu kürzen, vor allem in Westafrika und in der Region der Grossen Seen.

In Flüchtlingslagern in Tansania hätten die Rationen für 400’000 Menschen in den vergangenen 11 Monaten von den lebensnotwendigen 2100 Kalorien täglich auf 1400 Kalorien gekürzt werden müssen. “Damit stirbt man”, stellte Ziegler fest.

swissinfo und Agenturen

Jean Ziegler war bis 2002 Professor für Soziologie an der Universität Genf und ständiger Gastprofessor an der Sorbonne in Paris.

Von 1967 bis 1983 und von 1987 bis 1999 sass der gebürtige Thuner als Abgeordneter der Sozialdemokratischen Partei Genf im Nationalrat.

Im Ausland ist der 71-Jährige vor allem wegen seiner massiven Kritik am Schweizer Bankgeheimnis bekannt.

2000 wurde er von der UNO als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung engagiert.

Die Schweiz ist der Depositärstaat der Genfer Konventionen, die den Schutz von Zivilpersonen in bewaffneten Konflikten garantieren.

Das erste Zusatzprotokoll der Konventionen verbietet die Aushungerung der zivilen Bevölkerung als Methode der Kriegsführung.

Das zweite Zusatzprotokoll garantiert Zivilpersonen die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Medikamenten.

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