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“Blocher führt die Schweiz nach Europa”

Der Schriftsteller Tim Krohn. Jonas Knecht

Mit ihrem Politstil führe die SVP die Schweiz nach Europa, sagt der Schriftsteller Tim Krohn. Damit gefährde sie das Schweizer Konkordanz-Modell, den Willen zur gemeinsamen Gestaltung des Landes.

Dass ausgerechnet die SVP dazu beitrage, den Sonderfall Schweiz aufzuheben, habe eine gewisse Ironie, erklärt der Autor im Gespräch mit swissinfo.

swissinfo: Die Wahlen 2007 sind vorbei. Der unüblich heftig geführte Wahlkampf gab viel zu reden, auch im Ausland. Von Seiten der Schriftsteller blieb es ziemlich still. Wieso?

Tim Krohn: Es entspricht nicht den Schweizer Gepflogenheiten, dass sich Schriftsteller zu Wort melden. Kulturschaffende in diesem Land sehen sich selten als Aufklärer oder Vorreiter der Gesellschaft. Sie melden sich zu Wort als Staatsbürger, im üblichen Diskurs unter ihresgleichen oder am Stammtisch.

Anders als in anderen Ländern ist Kultur hier nicht per se elitär. Diese Zweiteilung in ein Fussvolk und eine intellektulle Elite, die entscheiden muss, wo es lang geht, gibt es hier nicht. Bei uns ist immer noch das Volk der Souverän. Die Meinung eines Schriftstellers zählt nicht mehr als die von jemand anderem.

swissinfo: Fehlen der Schweiz die intellektuellen Stimmen?

T.K.: Als Stimme der Schriftsteller im politischen Diskurs fehlt sie, weil die sich eben nicht oft in jener Sache zu Wort melden, was aber nicht heisst, dass es keine intellektuellen Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die eine Meinung haben.

swissinfo: Was halten Sie vom Ausgang der Wahlen vom letzten Sonntag?

T.K.: Im Vordergrund steht für mich der politische Diskurs, der sich im Vorfeld massiv verändert hat. Die SVP hat dafür gesorgt, dass ein europäischer Stil eingeführt wurde. Pointiert kann man sagen: Blocher führt die Schweiz nach Europa.

Es wurden Grabenkämpfe ausgetragen, es war dieselbe Art von Diskurs wie zwischen Opposition und Regierungspartei, wie wir das aus Deutschland, Italien oder den USA kennen.

Es ging nicht mehr darum, ein gutes Gleichgewicht zu finden. Das ist neu und erschreckend, weil dieser Schweizer Stil der Konkordanz, dieser Wille, das Land gemeinsam zu gestalten, jetzt hochgradig gefährdet ist.

Damit ist das eigentlich Einzige gefährdet, was die Schweiz zu einem Sonderfall in Europa macht und was allenfalls noch eine Rechtfertigung war, dass die Schweiz sich etwas abseits gestellt hat. Dass ausgerechnet die SVP dazu angestiftet hat, diesen Sonderfall aufzuheben, hat eine gewisse Ironie.

swissinfo: Ist die Schweiz also zu einem ganz normalen Land geworden?

T.K.: Was heisst ein normales Land? Sie hat sich Europa angenähert, und zwar auf eine Art und Weise, die ich persönlich bedenklich finde. Denn die Schlammschlachten, die jeweils in anderen Ländern vor den Wahlen stattfinden, sind ja nichts Erstrebenswertes.

Ich glaube und hoffe, das war ein Einzelfall. Die anderen Parteien werden künftig nicht mehr so dumm sein, sich auf das Spiel der SVP einzulassen, und werden mehr darauf achten, die Konkordanz, diese Schweizer Eigenart, zu wahren, die einer der grössten Schätze ist, den die Schweiz hat.

Wenn Europa dazulernen kann, um den eigenen politischen Stil zu verbessern, was auch dringend nötig ist, dann zweifellos auch anhand des Schweizer Modells, das 150 Jahre lang hervorragend funktionierte.

swissinfo: Wieso haben so viele Leute SVP gewählt?

In erster Linie wohl, weil sie die Idee unanständig fanden, einen amtierenden Bundesrat abzuwählen.

Das hat ja auch etwas Beruhigendes: Sie wollten nicht das System aus den Angeln heben, auch wenn das faktisch ein Stück weit passiert ist, sondern genau das Gegenteil: nämlich althergebrachte politische Werte, namentlich den guten Ton bewahren.

swissinfo: Welche Folgen hat dieser Wahlausgang für das Inland, aber auch für das Ausland?

T.K.: Für das Inland ist es schwer abzuschätzen. Die Frage ist: Will die SVP penetrant diesen so unschweizerischen Kurs weiterfahren? Will sie wirklich ein ganz neues politisches Klima schaffen, in dem es nur noch um Opposition, um Gräben und Kampf geht und nicht mehr um ein gemeinsames Gestalten der Schweiz? Dann haben wir einen ganz, ganz grossen Umbruch vor uns.

Aussenpolitisch wird sich nicht viel ändern. Natürlich ist die Schweiz etwas mehr nach rechts gerutscht, wie viele andere Staaten auch. Das ganze politische Spektrum in Europa hat sich ja in den letzten 20 Jahren massiv nach rechts verschoben.

swissinfo: Der Schweizer Wahlkampf 2007 gab auch in den ausländischen Medien zu reden. Wird diese teils negative Berichterstattung dem Image der Schweiz schaden?

T.K.: Das glaube ich nicht. Die Schweiz hat dermassen viel Bonus im Ausland und so viel Gutes in kultureller, humanitärer und wirtschaftlicher Hinsicht vorzuweisen, dass all das schnell wieder vergessen sein wird.

Ausrutscher nach rechts sind weltweit inzwischen dermassen an der Tagesordnung, dass man sich eher Gedanken darüber machten müsste, wieso dies von der internationalen Staatengemeinschaft stets so leicht geschluckt wird.

swissinfo: Die Schwarze-Schaf-Kampagne der SVP gab viel zu reden. Es war von Fremdenfeindlichkeit und gar von Rassismus die Rede. Ist die Schweiz ausländerfeindlicher als die umliegenden Staaten?

T.K.: Ich fürchte, wir liegen im Trend der Zeit. In Frankreich, in Deutschland erlebt man dasselbe seit vielen Jahren. In der Schweiz ist es ja auch nichts Neues. Dieser Rassismus war ja immer da. Neu ist nur, dass der Meinungsträger dieser fremdenfeindlichen Partei eine so grosse Popularität hat.

swissinfo: Wo wird die Schweiz in zehn Jahren stehen?

T.K.: Christoph Blocher wird nicht mehr an der Macht sein und die SVP damit deutlich an Boden verloren haben. Ich glaube nicht, dass die Schweiz an einem wesentlich anderen Ort stehen wird als jetzt.

Ich hoffe, sie wird in Europa eine gewisse Vorreiterrolle spielen, was das politische Modell angeht, wenn es bis dahin nicht zu Schanden geritten ist.

swissinfo-Interview: Gaby Ochsenbein

Geboren 1965 in Wiedenbrück, Deutschland. Aufgewachsen in Glarus, Schweiz.

Studium der Philosophie, Germanistik und Politologie.

Lebt als freischaffender Schriftsteller in Zürich.

1998-2001 Präsident des Schweizerischen SchriftstellerInnen-Verbands.

Unterrichtet zur Zeit am Literaturinstitut Biel.

Schreibt Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Hörspiele.

Träger verschiedener Literaturpreise.

Den letzten erhielt er 2007 für “Vrenelis Gärtli”, einen Roman, der im Eichborn-Verlag, Berlin, erschienen ist.

Nach der Gründung des modernen Bundesstaats 1948 haben die Radikalen (heute FDP) mehr als vier Jahrzehnte die sieben Regierungssitze alleine besetzt.

Die Konservativen (heute CVP) wurden erstmals 1891 in die Landesregierung zugelassen.

1929 wurde die Schweizerische Volkspartei (damals Bauern- und Gewerbepartei) in den Bundesrat integriert.

Die SP erhielt ihren ersten Bundesratssitz im Jahr 1943.

In der Regierung galt lange die Zauberformel 2 FDP, 2 CVP, 2 SP, 1 SVP.

Nach den Wahlen von 2003 erhielt die SVP als stärkste Partei einen Sitz mehr, die CVP musste einen Sitz abgeben.

Die Konkordanz zeigt sich in der ständigen Suche nach Kompromissen. Die grossen Parteien müssen diese Kompromisse erarbeiten, um Referenden und damit Volksabstimmungen zu vermeiden.

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