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“Convivialité” – Geselliges Zusammensein

Das Ehepaar Baumann, Gastschreiber der deutschsprachigen Redaktion. zvg

Während den Sommermonaten werden in den Dörfern Frankreichs zahllose Feste gefeiert. Das gemeinsame Essen ist immer der Höhepunkt.

Die vielfältigen Rahmenveranstaltungen bilden in der Regel nur den Vorwand fürs mehrtägige Zusammensitzen.

La Fête locale beginnt schon am frühen Samstagnachmittag mit einem Concours de pétanque. In der glühenden Augusthitze kämpfen Zweierteams jeder Alterskategorie um riesige Pokale, die so zahlreich bereitstehen, dass am Schluss kaum jemand leer ausgehen muss. Nach der Preisverleihung stehen wir in wechselnden Grüppchen zusammen, trinken unseren Apéro und schildern uns gegenseitig, was der heftige Gewittersturm vom Vorabend in Feld und Hof angerichtet hat, bis Jean-Michel Liares, der Maire, in die Hände klatscht und “à la table” ruft.

Etwa 65 Einwohner sind in der Gemeinde Traversères gemeldet. Am jährlichen Festessen sind es dreimal mehr, die am hundert Meter langen Tisch vor der Mairie Platz nehmen. Verwandte und Freunde aus den umliegenden Dörfern gesellen sich dazu. Alle haben ihre eigenen Teller, Gläser und Bestecke mitgebracht. Jetzt schwatzen und lachen sie laut durcheinander, während die Mitglieder des Comité des fêtes Brot und Weinflaschen auf dem Tisch verteilen und die Teller mit Melonen und Charcuterie füllen.

La grande bouffe

Die lange Festtafel erinnert stark an das opulente Mahl bei Asterix und Obelix auf dem Schlussbild jedes Bildbandes; das Essen ist ähnlich deftig und reichhaltig. Die Leute vom Comité schwirren flink hin und her, räumen Reste weg und schleppen neue Schüsseln und Platten an. Dauernd wird gewitzelt und geneckt.

Jean-Pierre, Entenzüchter und Festpräsident, verteilt vergnügt Komplimente und gegrillte Fleischstücke, stellt plötzlich die Platte auf den Tisch, hebt kurz die Hände “Stop! Au sérieux” kniet sich neben meinen Stuhl und preist mir ein paar Enten an, die er nächstens schlachten will. Strahlend nimmt er meine Bestellung entgegen, die Platte wieder auf und seine Neckereien mit meinen Tischnachbarn. Bis Mitternacht wird gegessen, dann noch einige Stunden getanzt und getrunken und am Sonntagnachmittag geht’s weiter mit einem Concours de quilles, Kegeln im Freien. Das Fest endet am späten Abend mit einem kleinen Essen: Entrée, Brochettes de coeur de canard, Dessert.

C’est la fête!

Solche und ähnliche Feste finden in den Sommermonaten in jedem Dorf statt. Das gemeinsame Essen ist immer der Höhepunkt. Die vielfältigen Rahmenveranstaltungen bilden nur den Vorwand fürs mehrtägige Zusammensitzen: Spiele, Flohmärkte, Fuss-, Pferd- oder Radwanderungen, Theater, Konzerte, Ausstellungen. Kaum ein landwirtschaftliches Produkt in der Gascogne, das nicht durch ein eigenes Festival geadelt wird. Es gibt ein Fest für die Melonen, eins für den Knoblauch, ein anderes für den Mais. La France profonde lebt. Das ländliche Frankreich ist in Festlaune, c’est la fête!

Hier findet man die berühmte convivialité gasconne: die Lust am geselligen Zusammensein gepaart mit traditioneller Gastlichkeit. Die Tourismuswerbung rühmt die ländliche Einfachheit und Natürlichkeit der Einheimischen. Ja, sie sind freundlich und geben sich einfach und bescheiden, die Gascogner, aber unterschätzen sollte man sie nicht.

Es kann durchaus passieren, dass man sich plötzlich mitten in diesem Trubel in ein Gespräch über C.F. Ramuz verwickelt sieht und kleinlaut gestehen muss, dass man zwar in der Schweiz zur Schule gegangen ist, aber eben in der Deutschschweiz, wo dieser grosse Waadtländer kaum zum Pflichtstoff gehört, so dass man knapp den Farinet kennt oder Derborence, aber doch eher die Filme und nicht die Bücher, was zugegeben sehr schade ist. Man verspricht, das Versäumte schnellstens nachzuholen und ist erleichtert, wenn das Gespräch sich wieder in den üblichen einfachen Bahnen bewegt.

Man redet über die Weizen- und Sonnenblumenerträge, die Jagderfolge der letzten Saison, die andauernde Trockenheit. Dreissig Prozent der Leute arbeiten noch in der Landwirtschaft, die andern sind mentale Bauern, haben ihren eigenen Gemüsegarten, ein paar Schafe, Enten und Hühner. Paris ist weit weg. Man versteht sich.

Wie im Berner Seeland

Das Nachbardorf widmet ein ganzes Wochenende der battage à l’ancienne, wo den staunenden Jungen alte Dreschmaschinen, Bindemäher und Traktoren aus den 30er-Jahren vorgeführt werden.

Erinnerungen werden wach an die Dorffeste im Bernbiet. Und an die Sichlete auf dem Bauernhof mit Schafsvoressen und riesigen Meringues, zu der die halbe Dorfbevölkerung eingeladen wurde, weil so viele bei der strengen Erntearbeit mitgeholfen hatten. Das Getreide wurde noch mit der Sichel oder einfachen Mähern geschnitten, die Garben auf Pferdefuhren heimgeführt und später in der Scheune gedroschen.

In nur einer Generation hat die Mechanisierung und Chemisierung die Ernte revolutioniert. Strenge körperliche Arbeiten gibt es nicht mehr, das Cockpit des Mähdreschers ist klimatisiert, Helfer braucht es heute keine mehr.

Stephanie und Ruedi Baumann

Stephanie Baumann, Jahrgang 1951, war Berner Kantonsrätin und Nationalrätin für die Sozialdemokraten. Zudem amtete sie als Verwaltungsrats-Präsidentin des Berner Inselspitals.

Ruedi Baumann, Jahrgang 1947, ist gelernter Bauer und Agronom. Er war Gemeinderat, Kantonsrat, Nationalrat und Präsident der Grünen Partei Schweiz.

Stefanie und Ruedi Baumann haben zwei Söhne. Die Familie bewirtschaftete 28 Jahre lang einen Bauernbetrieb in Suberg, im Berner Seeland, bevor sie im Jahr 2003 nach Frankreich auswanderte.

Heute leben die Baumanns in der Gascogne, 100 km westlich von Toulouse, und sind als Biobauern auf ihrem eigenen Hof tätig.

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