Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

“Das Gericht kann ein wichtiges Zeichen setzen”

Wieviele Personen umgebracht wurden, ist bis heute umstritten. Keystone Archive

Der Historiker Hans Lukas Kieser von der Uni Zürich beschäftigt sich seit Jahren mit den Gräueltaten, die dem armenischen Volk angetan wurden. Als wichtiges Signal schätzt er den Prozess ein, bei dem sich seit Dienstag 17 Türken vor einem Berner Gericht wegen mutmasslicher Verletzung des Antirassismus-Gesetzes verantworten. Ein Interview.

Hans Lukas Kieser, 17 türkische Personen müssen sich nun vor Gericht verantworten, die Anklage lautet auf Verstoss gegen das Antirassismus-Gesetz. Welche Bedeutung geben Sie als Fachmann diesem Prozess?

Der Prozess ist sicher sehr wichtig, es ist eine Premiere: Bisher wurde das Gesetz nur im Zusammenhang mit der Holocaust-Leugnung angewandt. Nun geht es um den Völkermord an den Armeniern.

Allerdings finde ich es schade, dass es soweit kommen musste. Dass es nicht möglich war, mit einer offenen Verarbeitung der Geschichte diesen Fragen zu begegnen, sondern dass sie auf juristischer Ebene ausgefochten werden.

Die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern 1915-1917 ist ein sehr schwieriges Thema: Es ist ein blinder Fleck und zugleich ein wunder Punkt des türkischen Nationalismus. Es entstand auch nie ein genügend grosser internationaler Druck, das Thema aufzuarbeiten. Deshalb kam es soweit, dass ein Prozess angestrebt wurde.

Es musste soweit kommen, weil man zu Recht nicht akzeptieren kann, dass gewisse türkische Kreise in unserem Land eine Leugnungs-Version, eine unhaltbare schönfärberische These zu einem erschütternden Ereignis der Geschichte pflegen und verbreiten. Was die systematische Vernichtung eines Volkes war, etikettieren sie als bedauerliche Folge von Deportation und Bürgerkrieg.

Welche Rolle spielt denn da die Schweiz, hier findet ja nun eben dieser erste Prozess statt?

Ich denke, die Rolle der Schweiz ist grösser, als man vom diplomatischen Gewicht her schliessen könnte. Die Rechtssprechung der Schweiz hat ein recht grosses Prestige.

Wenn also die Schweiz durch ihre Rechtssprechung zu verstehen gibt, dass dieser Völkermord zu anerkennen ist, dann hat das eine relativ grosse Bedeutung. Da geht es nicht – wie man beispielsweise bei Griechenland sagen könnte – darum, der Türkei “eins auszuwischen”, sondern es geht um den Inhalt, die Substanz.

Bereits in zwei Wochen soll das Urteil da sein, ob “Völkermord” oder “tragische Ereignisse” (wie es der Schweizer Aussenminister nannte) an den Armeniern. Kann denn solch kurze Zeit dem Problem überhaupt gerecht werden?

Sicher nicht dem ganzen Problem. Doch ein Gericht kann Zeichen setzen. Es geht dabei um verschiedene Ebenen: Das Eine ist die historische Wahrheit, das Andere ist der Punkt, wie man mit der Klage umgehen soll. Konkret beispielsweise, ob die Angeklagten fähig sind, ihre Tat zu erkennen oder ob ihre Sozialisierung ihnen das verunmöglicht.

A propos “gerecht werden” – da hoffe ich sehr, dass das Gericht das kann. Dass in vollem Ernst und mit Bewusstsein für die Bedeutung des Verfahrens der Prozess durchgeführt wird.

Die Türkei hatte 80 Jahre Zeit, ihre Geschichte im Hinblick auf die Vernichtung der Armenier aufzuarbeiten, sie hat das aber in keiner Weise gemacht. Insofern ist ein Gerichts-Entscheid ein wichtiges Element im internationalen, konstruktiven Druck, den es unbedingt braucht.

Ist das nicht etwas blauäugig? Es ist ja erst das Verfahren der ersten Instanz, ich behaupte, schliesslich wird in einigen Jahren das oberste Schweizer Gericht, das Bundesgericht, darüber zu befinden haben.

Ich glaube, es ist bezeichnend, dass die türkische Diplomatie relativ nervös reagiert. Ich habe bis jetzt noch recht wenig von dieser Seite gehört, es scheint schwierig zu sein, eine Strategie zu entwickeln.

In anderen Fällen hat die Regierung immer grosse Kampagnen gefahren, besonders lanciert durch die türkische Tageszeitung “Hürryiet”. Das habe ich bisher noch nicht gesehen – für mich ein Zeichen, dass das Wort dieses lokalen Gerichtes nicht etwa überhört, sondern mit Spannung erwartet wird.

Interview: Eva Herrmann

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft